Security verweigert Rettungsdienst

Hätte der Tod eines Babys durch Hilfe im Flüchtlingsheim verhindert werden können?

  • Claudia Krieg
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Schmerzen kamen am frühen Morgen. Frau H., seit zwei Monaten untergebracht in einer Sammelunterkunft für Geflüchtete in Lichtenberg, war im neunten Monat schwanger, als sie in der Nacht vom 22. auf den 23. Juni 2019 plötzlich starke Schmerzen und starke Blutungen bekommt. Ihr Mann bittet gegen vier Uhr morgens einen der zwei diensthabenden Security-Mitarbeiter, einen Rettungswagen für seine Frau zu rufen. »Auch wenn die Eheleute so gut wie kein deutsch sprechen, das Wort Rettungswagen hat Herr H. auf deutsch gesagt, um die Notsituation deutlich zu machen«, erklärt Nora Brezger vom Flüchtlingsrat Berlin gegenüber »nd«.

Die Bitte um schnelle Hilfe bleibt erfolglos: Der angesprochene Mitarbeiter des Berliner Unternehmens »G&S Gebäude und Sicherheitsservice GmbH« ruft weder einen Notdienst noch ein Taxi. Seine Begründung: Sonntagnacht könne man keine Feuerwehr anrufen. Stattdessen wird dem Paar eine Wegbeschreibung zum nächsten Krankenhaus mit Geburtsabteilung ausgedruckt - in drei Kilometern Entfernung, zu Fuß und mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar. Zwei Stunden brauchen Herr und Frau H. für die Strecke.

Im Krankenhaus entbindet Frau H. einen toten Jungen. Die Todesursache, erläutert ihnen später die zuständige Ärztin den Obduktionsbericht, ist eine diagnostizierte akute Plazentainsuffizienz. Dabei kommt es zu einer Sauerstoffunterversorgung des ungeborenen Kindes. Nur eine sehr schnell eingeleitete Entbindung im Krankenhaus kann dabei in der Regel den Tod des betroffenen Ungeborenen verhindern, sagt Tobias Kiwitt, Medizinrechtsanwalt im schleswig-holsteinischen Wedel. »Wir können noch nicht mit Sicherheit sagen, wann genau der Tod des Kindes von Frau H. eingetreten ist«, so Kiwitt, der die Eheleute H. vertritt. »Wir haben es mindestens mit unterlassener Hilfeleistung zu tun«, sagt der Medizinrechtler dem »nd«. Es werde in jedem Fall eine zweite Obduktion geben.

Befragt nach dem Befinden seiner Mandant*innen, sagt Kiwitt: »Frau H. ist sehr niedergeschlagen und depressiv. Ihrem Mann geht es nur wenig besser.« Vom Unternehmen »G&S« habe er bislang noch keine Stellungnahme zu dem Fall erhalten, so der Anwalt. Auf Nachfrage des »nd« gibt eine Mitarbeiterin an, in der Sache keine Auskunft erteilen zu können.

»Es kann nicht sein, dass Geflüchtete in akuten gesundheitlichen Notlagen der Entscheidung von Security- oder anderen nicht medizinisch qualifizierten Mitarbeitern, ausgeliefert sind«, so Georg Classen vom Berliner Flüchtlingsrat. Wenn Flüchtlinge darum bitten, müsse immer ein Rettungsdienst gerufen werden. Das sieht man in der zuständigen Senatsverwaltung für Integration und Soziales genauso: Auch Menschen, die nicht ausreichend deutsch sprechen, müssten in Unterkünften den Notdienst rufen können, sagt eine Sprecherin dem »nd«.

Classen verweist auf eine vor fünf Jahren durchgeführte Umfrage in Berliner Flüchtlingsunterkünften, die belegt, dass es immer wieder zur Verweigerung von medizinischer Hilfe für Asylsuchende kommt. Die Unterkunft, in der das Ehepaar H. bis zum Tod ihres Kindes gewohnt hat, sei bislang allerdings nicht durch solche Vorfälle aufgefallen, so Classens Kollegin Nora Brezger.

»Die Zustände vor fünf Jahren haben mit der heutigen Situation nichts zu tun«, sagt Sascha Langenbach, Sprecher des Landesamts für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) dem »nd«. Er bestreitet den vom Flüchtlingsrat erhobenen Vorwurf, die Qualitätsrichtlinien des LAF für Securitydienste in Sammelunterkünften enthielten nicht genügend klare Vorgaben zum Verhalten ihrer Mitarbeiter*innen. »Sowohl Betreiber wie Wachschützer verfügen über interne Arbeitsanweisungen, wer im Notfalle zu informieren ist«, so Langenbach. Gerade für besonders Schutzbedürftige wie Schwangere müsse in Notfällen unbedingt ein Rettungswagen angefordert werden. Warum das hier nicht geschehen ist, habe der Betreiber »lückenlos aufzuklären«.

Das Ehepaar H. wurde inzwischen auf eigenen Wunsch in eine andere Unterkunft verlegt. Für die Bestattung ihres Kindes und eine psychologische Begleitung erhält das Paar Unterstützung durch das LAF.

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