«Es hat sich ausgeschämt»

Was passiert wirklich in den Bordellen? Die Ausstellung «Strich/Code/Move» sagt der neuen Spießigkeit den Kampf an

  • Juri Wasenmüller
  • Lesedauer: 6 Min.

Ich klebe hier Preisetiketten. Im Lauf der Woche will ich auf über zwei Millionen kommen.« Kerstin Schulz kniet vor einem in Frischhaltefolie gepackten Wohnmobil, in der Hand ein Etikettiergerät, das eine Spur aus neonfarbenen Preisschildern hinterlässt. Das Wohnmobil und Schulz sind Teil des Kunstprojekts »Strich/Code/Move«, das auf dem Washingtonplatz in Berlin eröffnet wurde. Übers gemeinsame Etikettieren will die Bildende Künstlerin mit Passant*innen ins Gespräch über den Wert und die Wertschätzung von Sexarbeit kommen.

»Vor zehn Jahren wohnte ich mit meinen beiden Söhnen in Braunschweig, und da gab es eine Straße mit lauter Lovemobilen. Die Jungs fragten mich, was da drin sei, und ich konnte es gar nicht richtig erklären. Wenn ich als Künstlerin solche Momente habe, ist das ein Zeichen dafür, dass ich mich mit dieser Unwissenheit auseinandersetzen muss.«

Fünf solcher »Lovemobile« stehen eine Woche lang im Halbkreis vor dem Berliner Hauptbahnhof. Hier wird es täglich Performances, Workshops und Informationsveranstaltungen zum Thema Sexarbeit geben. »Schwarmkunst« heißt diese Kunstrichtung, die interaktiv und für möglichst viele Menschen zugänglich sein soll.

»2012 haben wir schon mal ein Strichcode-Projekt in Hannover gemacht, und es war sensationell: Die Eröffnungsrede hielt ein Museumsbesitzer zusammen mit einem Bordellbetreiber, Seite an Seite.« Während Schulz spricht, laufen Anzugträger*innen aus dem Bahnhof in Richtung Regierungsviertel. Ein paar Jugendliche mit großen Reiserucksäcken bleiben stehen und schauen in die sogenannten Lovemobile. Jedes davon ist ein kleines Museum. Es gibt zum Beispiel den Berlin-Wagen, in dem auf die prostitutionsspezifischen Besonderheiten der Stadt eingegangen wird. Vor dem Wagen informieren verschiedene Berliner Beratungsstellen wie Hydra e. V. oder die Deutsche Aidshilfe über ihre Arbeit.

Mechthild Eickel, die von 1998 bis 2014 als Sozialarbeiterin in der Beratungsstelle »Madonna« in Bochum tätig war, betreut den »Geschichtswagen«. Hier wird von der Antike bis zur Gegenwart nachgezeichnet, welche Bilder und Stigmata es in unterschiedlichen Gesellschaften bezüglich Sexarbeit gab. »Es ist wichtig, die Geschichte zu kennen, um zu verstehen, was wir einmal gewonnen und dann wieder verloren haben«, findet Eickel. Als Erfolg jahrzehntelanger politischer Kämpfe von Sexarbeiter*innen wird das Prostitutionsgesetz aus dem Jahr 2002 verbucht, mit dem Sexarbeit erstmals als Arbeit anerkannt und damit von der Sittenwidrigkeit befreit wurde. »Dieser Fortschritt wurde mit dem sogenannten Prostituiertenschutzgesetz 2017 komplett ausgehöhlt«, meint die Sozialarbeiterin. Seit dem 1. Juli 2017 werden Sexarbeiter*innen nämlich eine Reihe von Pflichten aufgelegt, die für die Initiator*innen von »Strich/Code/Move« vielmehr Kontrolle und Kriminalisierung als Schutz bedeuten.

Hierzu gehört die Pflicht zur Anmeldung, bei der Sexarbeiter*innen eine Bescheinigung ausgestellt wird. Dieser als »Hurenausweis« bezeichnete Schein muss immer mitgeführt und Vermieter*innen, Bordellbetreiber*innen oder Escort-Agenturen vorgelegt werden. Alle zwei Jahre steht eine Erneuerung des Ausweises an, alle zwölf Monate eine verpflichtende gesundheitliche Beratung, für Sexarbeiter*innen unter 21 sogar alle sechs Monate. Bei Verstoß gegen diese Vorschriften kann es zu Geldstrafen von bis zu 1000 Euro oder einem Arbeitsverbot kommen.

Stephanie Klee, die die Kampagne »Sexarbeit ist Arbeit. Respekt!« mitgründete, fühlt sich in ihren elementarsten Grundrechten beraubt: »Dieses Gesetz als Schutzgesetz zu bezeichnen, ist purer Hohn. Viele Sexarbeiter*innen weigern sich vor der Anmeldung, weil sie zum Beispiel nicht wollen, dass ihre Kinder den Ausweis sehen, oder weil sie Angst haben, dass die Behörden nicht vertraulich mit ihren Daten umgehen.« In der Folge könnten diese Kolleg*innen nicht mehr in Bordellen arbeiten, sondern nähmen übers Internet Kontakt mit Kunden auf. »Sie treffen sich dann in privaten Wohnungen, wo sie gar keinen Schutz haben.« Klee arbeitet schon lange in der Branche, momentan bietet sie als Sexualassistentin Männern und Frauen in Senior*innen-, Pflege- und Behinderteneinrichtungen sexuelle Dienstleistungen an. »Die Bilder über Sexarbeit von ›Sex und Crime‹ aus den Medien oder dem ›Tatort‹ haben wenig mit der Realität zu tun.« Für Klee ist die Idee von »Strich/Code/Move«, eine gesellschaftliche Debatte darüber anzustoßen, was wirklich in den Bordellen passiert. »Wir älteren Frauen sind jahrelang für Vielfalt und sexuelle Freiheiten auf die Straße gegangen. Ich habe mich immer als feministische Sexarbeiterin verstanden. Aber selbst feministische Gruppen begegnen uns teilweise mit Ablehnung, weil sie denken, ihre Lebensrealität habe mit meiner nichts zu tun. Aber das ist Quatsch. Der Slogan ›My body, my rules‹ gilt in allen Bereichen: bei der Lust, beim Thema Schwangerschaftsabbruch und auch bei der Entscheidung für Sexarbeit.«

Das Prostituiertenschutzgesetz soll nach fünf Jahren, also ab 2022, noch mal evaluiert werden. Das Ergebnis muss spätestens 2025 vorliegen. »Dieses Gesetz gehört einfach wieder abgeschafft«, findet Klee. Das meint auch Tamara de Lempicka, die Interessierte im Wagen »Ask a sex worker« empfängt. Sie sitzt auf einer Leopardenwolldecke und erzählt aus ihrem Alltag als Escort und Sexualbegleiterin. Von draußen klackern die Etikettiermaschinen gegen das Lovemobil. Den Grund für den gesetzlichen Backlash 2017 sieht Lempicka darin, dass man sich in der Gesellschaft so wenig mit dem Thema Sex und Sexualität auseinandersetze. »Es gibt gerade einen Wiederaufschwung von Spießigkeit, teilweise auch im feministischen Lager. Da geht es dann ganz schnell nur noch um moralische Argumentation und nicht um Fakten. So ist auch dieses Gesetz entstanden.«

Um an dieser neuen Spießigkeit zu rütteln, brauche es größere gesellschaftliche Veränderungen, auf vielen Ebenen. »In der Sexarbeit zeigen sich auch andere strukturelle Probleme. Zum Beispiel sind diejenigen, die sich politisch organisieren und Fürsprecherinnen der Bewegung werden, meistens weiße cis-Frauen. Die können es sich am ehesten leisten, Zeit und Geld in Aktivismus zu stecken, und haben die notwendigen sozialen Netzwerke.« Während queere Kämpfe mittlerweile präsenter seien, fehle es für migrantische Sexarbeiter*innen an Beratungsangeboten ohne soziale Hürden und Sprachbarrieren. »Dabei stecken sie oft in den prekärsten Beschäftigungsverhältnissen und machen keine Highclass-Escort-Geschäfte, sondern müssen jeden Job annehmen, der ihnen angeboten wird.«

Auch Mechthild Eickel berichtet aus ihrer Erfahrung im Ruhrgebiet, wie das gesellschaftliche Klima von Antimigrationspolitik und Rassismus Sexarbeiter*innen treffe: »Als in Dortmund der Straßenstrich geschlossen wurde, sollte das hauptsächlich bewirken, dass weniger Migrant*innen aus Osteuropa zum Anschaffen nach Deutschland kommen. Dadurch, dass Sexarbeit eine Arbeit ist, für die man keine Voraussetzungen braucht, machen das häufig Menschen, die sowieso schon strukturell benachteiligt sind. Das ist ein Problem. Aber das löst man nicht durch ein Verbot.«

Polly Fannlaf führt im Rahmen ihrer Politkunst-Aktion »Huren & Heilige, vereinigt euch!« den Vormittag über eine Umfrage vor dem Bahnhof durch: Welches Motiv haben Menschen, wenn sie arbeiten gehen? Meistens ist es Geld, aber keine Berufsgruppe wird dafür so stigmatisiert wie Menschen in der Sexarbeit. »Es ist dringend notwendig, dass das gesellschaftliche Image von Sexarbeiter*innen aus der Schmuddelecke herauskommt«, meint Fannlaf. Im Duo mit Laura Méritt promotet sie im »Freudenfluss-Network« seit 2005 einen sexpositiven Feminismus. Sie steht vor dem »VorStellungen«-Perfomance-Wagen, dessen gesamter Innenraum mit Haarlocken beklebt ist. In den kommenden Tagen sollen hier Schamhaare gespendet und aufgehängt werden. Fannlaf packt ihre Sachen zusammen und verabschiedet sich grinsend: »Es hat sich ausgeschämt, jetzt müssen sich die Hurizonte auch in der Mitte der Gesellschaft erweitern.« Im September geht die Ausstellung in Hannover weiter.

»Strich/Code/Move«, bis 27. Juli, Washingtonplatz Berlin.

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