Der Besenwagen soll ihn holen!

Ein seltsames Volk, diese Franzosen: Über die patriotische Tour-de-France-Berichterstattung der Fernsehsender

  • Niklas Weber
  • Lesedauer: 5 Min.

Das Schöne an der Tour de France ist ja, dass überhaupt nichts passiert. Tour-de-France-Gucken ist sehr, sehr langweilig, so langweilig wie ein viel zu heißer Sommernachmittag der Kindheit, wenn man von der Schule nach Hause kam. Mittagessen aufwärmen, Fernseher anmachen und im Sessel vor sich hindösen. Am Ende wurde es vielleicht aufregend, wenn Jan Ullrich wieder mal gegen den fiesen Lance Armstrong verlor. Das war diesmal wirklich knapp, naja, jetzt ein Erdbeereis und später ganz bestimmt noch Hausaufgaben.

Dass damals alle gedopt waren, stört mich und meine Erinnerungen nicht. Jan Ullrich randaliert heute auf Mallorca, und Lance Armstrong ist sogar noch unbeliebter als früher, das ist wohl die gerechte Strafe. Ich schaue das immer noch gerne. Vorne fährt eine Ausreißergruppe, sie haben drei Minuten Vorsprung und keine Chance. Hinten kämpft ein Fahrer gegen die »Karenzzeit«, er ist ganz allein auf der Welt, hinter ihm rollt nur der unerbittliche Besenwagen, der ihn einsammelt, wenn er nicht mehr kann. Eine entspannte Allegorie von Leben und Tod, auch das ist die Tour de France. Dazwischen das Peloton (so ein schönes Wort), das Team des Fahrers im Gelben Trikot »kontrolliert das Feld«, noch ein paar Stunden, dann werden die Ausreißer eingeholt und es gibt einen Sprint oder noch eine Attacke. Vielleicht fällt ein Favorit zurück und alle aus seiner Mannschaft warten auf ihn und gemeinsam versuchen sie dann, wieder aufzuholen, meistens klappt das nicht, schade für ihn, gut für die anderen.

Landschaftsaufnahmen aus dem Helikopter, ein semiinteressantes Schloss, eine durchschnittliche Kleinstadt, ein Dorf, das dafür bekannt ist, früher mal besonders schmackhaften Käse produziert zu haben (heute nicht mehr). Eine Kuh möchte zur Unzeit die Straße überqueren, die Zuschauer halten sie auf, puh, das ist noch mal gut gegangen. Bauern protestieren am Wegesrand gegen Bären und Schweinemastbetriebe, sie leben in den Pyrenäen und haben andere Probleme als die Menschen in den Städten.

Mir ist es ziemlich egal, wer gewinnt. Ich mag Thibaut Pinot, weil ich gehört habe, dass er sich vor den Abfahrten fürchtet; Nairo Quintana, weil er so knuddelig aussieht; Rigoberto Uran, den ich für seinen Namen schätze. Christopher Froome mag ich nicht so gern, aber der fährt ja dieses Jahr nicht mit. Gegen Emanuel Buchmann, den besten deutschen Fahrer, habe ich eigentlich überhaupt nichts einzuwenden, macht einen netten Eindruck, ein bisschen arg schüchtern vielleicht.

Und doch hoffe ich inständig, dass der nette, schüchterne Emanuel Buchmann bei der nächsten Etappe fürchterlich verliert, eine halbe Stunde nach den anderen Favoriten ins Ziel kommt, ach was, der Besenwagen soll ihn holen! Die Tour de France macht nämlich keinen Spaß mehr, seitdem Emanuel Buchmann so gut ist. Derzeit ist er Sechster im Gesamtklassement, und Florian Naß, der Kommentator der ARD, dreht am Rad.

»Wir müssen über Emanuel Buchmann sprechen!«, plärrt Naß unermüdlich, und dann reden er und sein Sidekick über Emanuel Buchmann, wie sensationell er bisher fährt, souverän, flüssig, konstant, ohne jedes Anzeichen von Schwäche, was für eine herausragende Leistung das ist, dass er Sechster ist, dass er gesagt hat, dass er unter die Top Ten fahren will, dass er aber aktuell schon Sechster ist, geht da vielleicht noch mehr?, der sechste Platz wäre ein großartiger Erfolg, wir wollen ihm nicht zu viel aufbürden, vielleicht geht da aber sogar noch mehr, ein deutscher Fahrer, der zurzeit Sechster ist, wann hat es das zum letzten Mal gegeben?!

Ein Freund von Emanuel Buchmann wird zugeschaltet, um uns den »Menschen Emanuel Buchmann« näherzubringen. Was ist das für einer? Ist er wirklich so schüchtern? So wunderbar bescheiden und bodenständig? Was isst Emanuel Buchmann zu Mittag? Was wird Emanuel Buchmann machen, wenn er am Ende aufs Podium kommt? Wie feiert so ein Emanuel Buchmann? Trinkt er dann vielleicht sogar Alkohol? Ja? Ja! Ist das geil, ein Mensch aus Fleisch und Blut, so wie du und ich, bescheiden und bodenständig, und momentan Sechster im Gesamtklassement!

Komisch, dass die ausländischen Medien nicht so viel über unseren Emanuel Buchmann berichten. Ein seltsames Volk, diese Franzosen. Achtung! Ein Fahrer kann das Tempo der Spitzengruppe nicht mehr mitgehen, Moment mal, der ist aktuell Neunter, damit macht Emanuel Buchmann schon wieder Zeit auf einen DIREKTEN KONKURRENTEN gut! Schnappatmungsbedingt fünf Minuten Buchmann-Pause, dann geht der Quatsch wieder von vorne los: »Wir müssen über Emanuel Buchmann sprechen!«

In einem Moment der Selbstreflexion hat uns Naß seinen aufgeklärten Patriotismus in etwa so erklärt: Das ist völlig okay, wenn wir sagen, ja, Emanuel Buchmann ist UNSER Fahrer, das ist wirklich vollkommen in Ordnung und vollkommen normal, warum denn nicht, die Hauptsache ist, dass man fair ist gegenüber den anderen.

Ob es diesen Patriotismus in der Sportberichterstattung braucht, darf man bezweifeln. Es gibt sicherlich viele Zuschauer*innen, für die der Kolumbianer Quintana nicht in erster Instanz ein »anderer« ist, sondern zum Beispiel ein knuddeliger Typ, der leider immer verliert. Die es nicht kümmert, ob endlich wieder »ein Deutscher« gewinnt, und denen Florian Naß furchtbar auf die Nerven geht. Die die Tour de France für dieses behagliche Gefühl mögen, dass irgendwie alles okay ist und nichts Besonderes passiert.

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