Immer diese Widersprüche

Woodstock, Charles Manson, Punk: Jens Balzers Buch «Das entfesselte Jahrzehnt» rekonstruiert, ohne zu romantisieren.

  • Benjamin Moldenhauer
  • Lesedauer: 6 Min.

Nostalgie, einst erklärter Todfeind von Pop, hat schon lange die Rezeption des Populären ergriffen. Als Wunsch nach vorgeblich eindeutigeren Koordinaten und Gegensätzen («Beatles vs. Rolling Stones» oder «Mainstream vs. Underground» zum Beispiel), die sich heute in einem wüsten Patchwork aufgelöst zu haben scheinen. Wer also Pophistorie betreibt, sollte achtgeben, dass sie oder er seinen Gegenstand nicht verklärt, und die Sehnsucht nach etwas Vergangenem präsent haben, die als Leserwunsch an den Text herangetragen wird.

Jens Balzer, früher jahrelang als Pop-Redakteur der seit seinem Abschied eher öden «Berliner Zeitung» tätig, macht in dieser Hinsicht alles richtig. «Das entfesselte Jahrzehnt» ist ein schwerst unterhaltsamer und zugleich aus einer nüchternen und distanzierten Perspektive geschriebener Text über die 70er Jahre. Dem Buch gelingt es, eine Zeit und ihren «Geist», wie es der Untertitel will, zu rekonstruieren, ohne zu romantisieren. Balzer verfährt chronologisch und beschreibt anhand von überwiegend naheliegenden (David Bowie, Frauenbewegung, Disco, Punk) und einigen nicht ganz so naheliegenden (Pril-Blumen, Vokuhilas, Okkultismus) kulturellen Phänomenen eine Epoche, die bestimmt ist von dem Glauben an eine lebenswertere und interessantere Zukunft. Eine Zukunft, die in der Gegenwart bereits enthalten sein sollte und eben nur entfesselt zu werden brauchte.

Das Buch beginnt mit der Beschreibung zweier Massenereignisse Ende der 60er Jahre: das Musikfestival Woodstock und die Fernsehübertragung der Mondlandung. Man sieht, welche Versprechen und Erzählungen damals noch geglaubt werden konnten. Die Festivalgänger, aber auch die Menschen, die als eine Art mediales Kollektiv vor den Bildschirmen der Eroberung des Mondes beiwohnen, weisen in eine gloriose Zukunft der Menschheit: «Alle gemeinsam zeigen in ihrer Schönheit und harmonischen Einheit der restlichen Menschheit den Weg ins Paradies.»

Beide Ereignisse allerdings waren in gewisser Weise, bei aller Schönheit des Moments, Rohrkrepierer. Woodstock wurde erst in der nachträglichen medialen Aufbereitung zu einem die Epoche definierenden Phänomen; Balzer zeigt immer wieder, welche strukturbildende Rolle kulturindustrielle Mechanismen bei der Verbreitung auch der Pop-Phänomene haben, die sich selbst als subversiv verstehen. Der «Sommer der Liebe» fand sein symbolisches Ende dann wenige Jahre später mit der Ermordung der Schauspielerin Sharon Tate und weiteren Opfern der Manson-Family, die eben auch eine Hippie-Landkommune war, wie es damals Hunderte gab in den USA. Und die Mondlandung war im Nachgang eine Enttäuschung: zu unspektakulär waren die Bilder, und eine Fortsetzung blieb aus - weiter ist der Mensch bislang nicht ins All vorgedrungen. Das beste Antidot gegen Verklärung also.

Balzer zeigt immer wieder, an welchen Punkten jeweils den damaligen Versprechen auf ein gutes, wilderes, befreites Leben das Scheitern bereits eingeschrieben war. Immer diese Widersprüche: David Bowie beispielsweise - emblematische Verkörperung des Versprechens auf Auflösung starrer Identitätskonzepte - war eben auch ein narzisstisches Arschloch, dem sein Popstar-Ruhm es erleichterte, Minderjährige ins Bett zu bekommen. Selbstbefreiung als Selbsterhöhung und Ausnutzung der anderen. Die Hakenkreuze, die viele Punks zur Schau stellten, liest Balzer als symbolische Provokationen, als fehlgegangene allerdings. Sie stehen aber auch für die heute oft vergessenen Sympathien einiger der damaligen Subkultur-Protagonistinnen und -Protagonisten für die britische Rechte. «Wenn der Gebrauch von nationalsozialistischen Symbolen und rassistischen Stereotypen mehrdeutig ist, dann umfasst er auch die Deutungsmöglichkeit, dass man es mit diesen Symbolen ernst meint.» Es gab eben nicht nur The Clash, sondern auch die Nazi-Punkband Skrewdriver.

So ist das Buch im weitesten Sinne dialektisch gebaut, und wirklich steile Thesen findet man nur wenige (nein, es gibt, anders als auf Seite 353 behauptet, keine «direkte historische Linie» von David Bowie «über die Sex Pistols hin zu Beate Zschäpe», zumindest keine, die mehr als zufällig wäre).

Am unmittelbarsten zeigt die Widersprüchlichkeit sich bei den Versuchen, eine angeblich unterdrückte Sexualität zu befreien. Die Voraussetzungen für politische und ästhetische Gegenentwürfe und behauptete Umstürze waren in den 70ern insofern generell besser, als die Idee, die Triebe und damit auch das gute Leben würden von der herrschenden Moral unterdrückt, um einiges plausibler schien als heute. Wenn man glaubt, dass Sexualität per se Objekt von Repression ist, wird es leichter, eine überzeugende transgressive Gegenerzählung zu erfinden. Bloß war es so einfach dann eben doch nicht. Am Beispiel der sexualisierten Bilder in den «U-Comix»: Die sind, schreibt Balzer präzise, das erste Medium, an dem sich studieren lässt, wohin die Entfesselung eben auch führen kann - «zu einem unkontrollierten und in kurzer Zeit eskalierenden Ausbruch von Hass- und Gewaltphantasien».

Oder auch die unüberschaubare Welle der Filme im Gefolge der Schulmädchen-Report-Reihe: Das Denken des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes unterschied sich laut Balzer in Hinblick auf Sexuelles «nicht wesentlich von der Haltung, mit der Sepp Eber, der Wirt aus dem Gasthaus ›Zum wilden Eber‹, seine willigen Touristinnen in ›Liebesgrüße aus der Lederhose‹ empfängt».

Die Phänomene, anhand derer sich hier ein mosaikhaftes Bild der 70er Jahre in den USA, Europa und vor allem in Deutschland ergibt, sind also von Widersprüchen bestimmt, es geht nicht um pittoreske Rückschau. Woodstock, Charles Manson, Punk und U-Comix bilden Extreme, wenngleich auch exemplarische. Am interessantesten ist «Das entfesselte Jahrzehnt» immer dann, wenn Balzer beschreibt, wie das, was in der Subkultur der 70er Jahre vorbereitet wurde, ins kulturelle Allgemeingut diffundiert und bis heute wirkt - Kinderläden, Umweltbewegung und eben eine allgegenwärtige Popkultur.

Wenn Balzer Thesen über Pop- und Alltagskultur formuliert, schreibt er kurzweilig und auf den Punkt. Man liest «Das entfesselte Jahrzehnt» in einem Stück weg, ohne sich groß anstrengen zu müssen, und wird trotzdem nicht dümmer. Wenn es am Rande um die damalige Kulturtheorie geht - Gilles Deleuze zum Beispiel oder Klaus Theweleit -, wird es mitunter etwas grob. Theweleits «Männerphantasien» waren dann auch in der simpelsten zeitgenössischen Lesart immer mehr als eine Vorlage für Männertherapiegruppen. Das sind jedoch Kleinigkeiten, und wenn man eine Geschichte der Pop- und Alltagskultur schreibt, ist die Kenntnis der Musikgeschichte, Science-Fiction-Literatur, Lederhosen-Filme und Werbeästhetik am Ende relevanter als der Anti-Ödipus.

Wie verhält es sich nun mit der Nostalgie in diesem Fall? Vergleicht man die damaligen himmelsstürmerischen Energien mit der Gegenwart, in der dieses Buch erscheint, kann es Leserinnen und Leser schon mal leicht depressiv anwehen. Keiner kann mehr eine Utopie formulieren, ohne sich lächerlich zu machen, und kaum einer glaubt noch, die Zukunft werde sich durch die Entfesselung der exorbitanten Potenziale der Menschheit zum Besseren wenden. Stattdessen reift langsam die Erkenntnis, dass die Gattung es eventuell grundlegend versemmelt hat.

«Das entfesselte Jahrzehnt» rekonstruiert so für Leserinnen und Leser heute eine im Vergleich ungebrochene Haltung zur Welt, die von deren weitgehender Veränderbarkeit ausgeht. Diese Haltung ist kristallisiert in den zeitgenössischen kulturellen Artefakten, anhand derer Balzer ihre Geschichte erzählt (Sozialgeschichte und Arbeitswelten interessieren in «Das entfesselte Jahrzehnt nur ganz am Rande). Nostalgisch kann man werden, wenn man sich beim Lesen vor Augen führt, an was für Möglichkeiten einst geglaubt werden konnte, ohne dass es naiv oder bescheuert gewirkt hätte. Gegen Anwandlungen von Wehmut hilft dann das im Buch immer präsente Wissen um die Widersprüche und das Scheitern der meisten damaligen radikal gedachten Unternehmungen.

Jens Balzer: Das entfesselte Jahrzehnt. Sound und Geist der 70er. Rowohlt Berlin, 432 S., geb., 26 €.

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