«Ich kann im Museum fliegen»

Menschen, die auf Kunstwerke starren: Der Fotograf Stefan Draschan geht in weltbekannten Ausstellungen auf die Jagd nach dem perfekten Zusammenspiel.

Elf Sekunden steht der Durchschnittsbesucher vor einem Bild in einem Museum.« Wenn es jemanden gibt, der sich für diese Info interessiert, ist es der Künstler Stefan Draschan. Denn seine Kunstwerke entstehen exakt binnen dieser elf Sekunden. Er fotografiert Menschen, die sich in Museen Gemälde anschauen. Aber nicht jeden Besucher, sondern nur jene, die zufälligerweise zu den Kunstwerken passen oder in einer eigenartigen Weise mit den Werken korrespondieren. Ob es die Haarfarbe ist oder die Frisur, die Kleidung oder die Haltung - es lässt sich oft ein perfektes Zusammenspiel finden.

Ein Mann steht etwa vor dem Gemälde »Abtei im Eichwald« von Caspar David Friedrich in der Alten Nationalgalerie in Berlin. Auf dem graubraunen Bild ist die Ruine einer gotischen Kirche, von kahlen Eichen flankiert auf einem Klosterfriedhof im Winter. Der Besucher hat ein schwarzes T-Shirt an, worauf mit dramatischen Sonnenuntergangsfarben das Wort »DESTROY« (Zerstören) zu lesen ist. So bilden das Gemälde der Frühromantik und der heutige Besucher für einige Sekunden ein komplett neues Werk, eine irre zeitgenössische Ästhetik. Solch ein perfekter Zufall entgeht Draschan nicht.

Innerhalb von vier Jahren hat er 780 derartige Fotos geschossen. Seit 2015 fotografiert Stefan Draschan in verschiedenen Kunstmuseen der Welt. Daraus machte er vor allem drei Serien: »People matching artworks« (Menschen, die zu Kunstwerken passen), »People touching artworks« (Menschen, die Kunstwerke anfassen) und »People sleeping in museums« (Menschen, die in Museen schlafen). Seine Arbeiten wurden zuerst in sozialen Netzwerken verbreitet. Eine Art »Fame-Moment« habe er erlebt, als seine Lieblingsmedien wie CNN oder »Le Monde« über ihn und seine Fotos geschrieben haben. Daraufhin stellte er in einigen europäischen Städten aus. Vor Kurzem erschien im Hatje-Cantz-Verlag der Fotoband »Zufälle im Museum« mit einer Auswahl von jüngsten Bildern der Serie »People matching artworks«.

Der heute 40-jährige gebürtige Österreicher wohnt seit sechs Jahren in Berlin, pendelt aber zwischen Wien, Paris und Neapel. »Die letzten Jahre lebe ich eigentlich so gänzlich ohne Plan«, sagt Draschan. »Ich kann morgen noch in der Frühe nach London fliegen, in die Ausstellung gehen und versuchen, heimlich Fotos zu machen.«

Doch wie kann ein 2,01 Meter großer Mensch, der - wie er selber sagt - »oft auffällig gekleidet« ist, heimlich fotografieren? Beim Gespräch mit der nd-Redakteurin trägt er silberne Schuhe mit Panthermuster, rote Socken, eine zweifarbige Hose, hinten gelb, vorne dunkelblau, sowie ein hellblaues Hemd und eine dunkelblaue Jacke.

Ob er stundenlang im Hinterhalt auf einen perfekten Moment wartet? Komplett falsch. »Ich kann im Museum fliegen«, sagt Draschan. Es macht ihm Spaß, etwa zwei Stufen auf einmal zu nehmen; so bewegt er sich schnell durch die Museumsräume und befindet sich immer wieder in einer anderen Situation. Innerhalb von wenigen Minuten findet er ein Sujet. »Es geht einfach wirklich um dieses Sehen; wenn die Augen trainiert sind, dann weiß ich, wo was stattfinden kann oder wie. Oder ich kann es auch berechnen. Es gibt nur ganz wenige Situationen, wo ich nicht sofort jemanden sehe auf 50 Meter. Also das ist wie eine Autodelle, die sehe ich auf 50 Meter Entfernung, selbst in der Nacht.«

Die Kleidung spielt sicher eine Rolle. Wenn sich beispielsweise eine Person mit einer weißen Mütze in einem Raum befindet, wo ein Bild von einer Kirche hängt, die aus weißem Marmor erbaut ist - so ist das für ihn eine Gelegenheit. »Ich kann von einem Raum vorher sagen, wie groß die Chance ist, dass diese Person vor dem Bild sein wird. Auch psychologisch gesehen wird die Person das Bild selten ignorieren, wenn sie den Raum betritt.«

Solche Museumsrätsel beschäftigen Draschan. »Ich habe mal einen Typen gesehen, so einen harten, Heavy-Metal-mäßigen, der hat 35 Minuten lang Caspar David Friedrich angeschaut. Also 35 Minuten! Das finde ich geil.« Zwischen Fliegen und Raumwechseln und Fotoschießen wird auch er manchmal von einem Kunstwerk gefangen genommen. »Die Rosenkranzmadonna« von Caravaggio im Kunsthistorischen Museum in Wien etwa. »Ich schaute mir das eine Stunde und vier Minuten an, ich driftete wirklich ins Weltall weg. Nur von dem Sinn des Sehens her denke ich mir, es gibt einfach nichts Besseres.«

Seine Museumsbesuche erfordern Konzentration und Geduld. Dabei helfen ihm die Audioguides. Auch Schuhe sollen leise sein. Für Museen hat er welche mit Gummisohlen. Und wenn er das perfekte Match findet, »ein Welt-Foto« also, dann habe das Foto zu existieren. »Ich würde mich niemals aufhalten lassen, oder ich will auf Weltkrieg gehen mit Leuten, die mich daran hindern würden, solche Fotos zu machen, das sage ich.« Diese Bilder seien Dinge, die keinen Schaden anrichten, sondern Freude bereiten, meint er. Das sei eine Art »demokratisierende Kunst«. »Der Mensch kann dieselbe Schönheit haben wie die größten Kunstwerke der Welt.«

Nicht alle Museumsmitarbeiter*innen denken so. Stress gibt es in etlichen Fällen. Stefan Draschan blitzt nicht (ist ja auch in Museen verboten), und er fotografiert Menschen von hinten. Aber bei bestimmten Tattoos oder besonderen Merkmalen, die erkennbar sein könnten, kann es problematisch werden - wegen der Persönlichkeitsrechte. Außerdem gibt es eine Menge Haus- und Bildhintergrundrechte, die von Museum zu Museum unterschiedlich sind. »Paris ist total relaxt. Deutschland ist viel strikter mit Fotorechten«, sagt er. Das schwerste Foto habe er in Edinburgh vor einem Gemälde von Rembrandt gemacht. Heimlich. »Das Hintergrundrecht muss man zum Teil einholen, also bei 70 Jahre Copyright und so weiter.« Und die Staatlichen Museen wahren ihr Hausrecht. »Ich fühle mich dann richtig verletzt, wenn ich als kommerzieller Fotograf bezeichnet werde. Ich kriege pro Buch, glaube ich, etwa 80 Cent«, so Draschan. »Aber dadurch bin ich jetzt kein Künstler mehr, sondern ein kommerzieller Fotograf; nun muss man denen halt Geld geben.«

Wenn er Fotos verkauft, dann für 1000 bis 1900 Euro. Es kommt auf die Größe an. Die Fotoausrüstung spielt auch eine entscheidende Rolle. »Bei mir ist das Hauptproblem immer, wie nahe ich rankomme, ohne bemerkt zu werden.« Derzeit fotografiert er mit einer Digitalkamera von Nikon. »Ich habe jetzt zum ersten Mal endlich ein bisschen Geld verdient, also ich kann mir diese neue Sony-Alpha-Kamera kaufen.«

Was macht der Fotograf, wenn er gerade nicht durch die Museumsräume »fliegt«? Er steht seit Jahren ohne Wecker auf, genießt »diese Art von Freiheit«, liest 10 bis 15 Zeitungen am Tag, natürlich online, und sammelt sogar Rechtschreibfehler in Zeitungsartikeln. Daraus wolle er »ein collagiertes Gedicht« zusammensetzen. »Vielleicht bin ich dann beides, dieser Jäger und Sammler nämlich«, lacht er. Er sei so ein vegetarischer Jäger, betont er sofort. Auch komplett nüchtern hat er jahrelang gelebt. Er interessiere sich eigentlich für alles. Seine letzten gelesenen Bücher, gesehenen Filme, gelernten Zitate fließen jederzeit ins Gespräch ein. Er äußert sich fast zu jedem Thema. Da man in Politik und Wirtschaft mittlerweile nur Wahnsinn erlebe, »ist die Kunst, die bis jetzt immer verrückt war, nun eigentlich eines der normalsten Dinge«. Fragt man ihn, was er studiert hat, beginnt die Antwort zwar mit »Geschichte in Wien«, geht aber über zum Thema Neoliberalismus, dann zu Klimawandel und weiter zu Yuppies in den 1980ern und endet mit seiner Sehnsucht, etwa Tiere oder Bäume zu beobachten.

Geschichte hat er also in der Schule geliebt, an der Uni aber gehasst, weshalb er dann das Studium abgebrochen hat. In allen möglichen Jobs hat er gearbeitet. Lehrer, Journalist, DJ, Fahrradaktivist. Letzteres ist Draschan immer noch. In Wien hat er etwa mit anderen Fahrradfahrer*innen Stimmen für Fußgängerzonen gesammelt. Auch eine aktivistische Fotoreihe hat Draschan: »Bicycle Culture« (Fahradkultur). Damit hat er schon gegen 2013 angefangen. Damals fotografierte er noch mit I-Phone. Im Gegensatz zu seinen Museumsserien sind diese Fotografien inszeniert. Man sieht ihn mit Fahrrad an ungewöhnlichen Orten: auf einem Baum, im Meer und vor allem auf Autowracks. Oder bei Unfällen: Draschan möchte auf die Radfahrer*innen aufmerksam machen, die jährlich sterben. »Ich habe noch nie eine Schlägerei gehabt. Ich bin eher unter friedliebenden Menschen und will eigentlich nicht drangsaliert werden. Ich will nicht andauernd in Gefahr sein«, sagt er.

Vor Autolärm, Gestank und potenziellen Verkehrsunfällen würde er gern irgendwohin fliehen. »Ich kenne wirklich jeden Baum im Tiergarten. Aber es gibt keine einzige Stelle dort - das ist doch die grüne Lunge Berlins -, an der man auch im Sommer, wenn die Blätter vieles an Lärm nehmen, kein Auto hört.« Da bleibt ihm also nur eine Möglichkeit: Er geht ins Museum.

Stefan Draschan: Zufälle im Museum. Hatje Cantz Verlag, 120 S., 80 Abb., geb., 16 €.

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