nd-aktuell.de / 01.08.2019 / OXI

Die merkwürdige Vorstellung der Gesellschaft von dem, was wir tun

Johanna Weber ist seit 25 Jahren Sexarbeiterin. Sie kennt all die Schwierigkeiten und Unwägbarkeiten, mit denen es Selbstständige zu tun haben

Simone Schmollack

Frau Weber, haben Sie heute schon gearbeitet?

Heute nicht, aber gestern.

Wie viel haben Sie verdient?

Ich habe 400 Euro Umsatz gemacht. Aber Umsatz bedeutet nicht Gewinn, das kennen die meisten Selbstständigen. Man muss schon 70 bis 80 Prozent Abzüge einplanen. Studiomiete, Mehrwertsteuer, Einkommensteuer, Ausgaben für Fetischkleidung, Erotiktoys, Telefon, Werbung, Steuerberater, Kosten für eine Website, Krankenversicherung, private Altersvorsorge …
Ist zwar mehr als der Mindestlohn einer Altenpflegerin mit 9,40 Euro brutto in der Stunde, aber trotzdem wenig für eine Branche, der horrende Einnahmen nachgesagt werden.
In der Sexarbeit macht man an vielen Tagen gar keinen Umsatz. Überhaupt sind die Einkommen sehr unterschiedlich. Das ist vielleicht vergleichbar mit Fotografen, bei denen es einige Stars gibt, viele Mittelverdienende und viele, die von der Hand in den Mund leben. Menschen, die angestellt arbeiten, können in der Regel mit Umsatzzahlen von Selbstständigen nicht viel anfangen. Deshalb halte ich es für recht schwierig, Umsatzzahlen unkommentiert im Raum stehen zu lassen.

Der Vergleich mit Angestellten ist unrealistisch?

Angestellte arbeiten regelmäßig, erhalten ihr Gehalt monatlich und sind über die Arbeitgebenden versichert. Wenn ich krank bin oder Urlaub mache, bin ich wie alle Selbstständige auf meine Rücklagen angewiesen. Zu meinem Job gehört es, stundenlang Akquise zu betreiben. Von zehn Anfragen, die ich erhalte, bekomme ich vielleicht eine Zusage.
Klingt nach mehr Arbeit am Rechner und am Telefon als im Dominastudio.
Klassische selbstständige Tätigkeit eben. Wer das wie ich schon lange macht und Stammkunden hat, kann in Berlin auf ein Monatseinkommen von 1.700 Euro netto kommen. Darüber lachen sich Kolleg*innen in München kaputt, davon könnten sie nicht einmal die Miete für ihre Wohnung bezahlen. Die meisten Sexarbeitenden in Berlin kommen nicht annähernd in den genannten Bereich. Es gibt manche, die verdienen so wenig, dass ich mich frage, wie die davon leben können.

Wie sieht es bei Ihnen aus?

Ich habe vor 25 Jahren angefangen mit der Sexarbeit, habe Stammkunden und bin außerdem Workaholic. Ich verdiene recht gut. Das ist möglich, aber nicht repräsentativ.

Wie viele Kunden bedienen Sie täglich?

Puh, so fünf bis sechs in der Woche.

Warum ist das wichtig?

Die Gesellschaft hat eine merkwürdige Vorstellung von Sexarbeit. Die meisten Menschen denken, wir sitzen den ganzen Tag im Studio, im Bordell oder im Massagesalon, und die ganze Zeit über geben sich Kunden die Klinke in die Hand.

Ist das nicht so?

Die meiste Zeit passiert gar nichts. Es klingelt kein Telefon, die Tür geht nicht auf. Und das manchmal stundenlang.

Was machen Sexarbeiter*innen in der Zeit?

Warten.

Es gehen also nicht, wie das Statistische Bundesamt schätzt, eine Million Männer jeden Tag ins Bordell?


Die Zahl kann ja gar nicht stimmen. Wo sollen die denn alle herkommen? Wäre es so, wären wir ja alle reich.

Wie viel muss der Kunde bezahlen?

Bei uns ist es anders als im Bordell, bei uns zahlt der Kunde einen Festpreis, den die Kolleg*in selber festlegt. Da ist dann alles drin: Gespräch, Spiel, Sex, Duschen. Für Sonderwünsche wie eine Latexsession zahlt der Kunde 50 Euro extra. Der Aufpreis muss sein, weil allein das Saubermachen der Latexutensilien recht aufwendig ist. Im normalen Bordell zahlt der Kunde für das, was er bucht, beispielsweise eine Handmassage, etwa 35 Euro. Ab 40 oder 50 Euro kriegt man auch schon mal Geschlechtsverkehr. Meiner Meinung nach ist der Preis zu niedrig. Die Frauen versuchen fast immer, Extras zu verkaufen: Blowjob, SMElemente, Analsex, Küssen.

Küssen? Das war doch früher total verpönt.

Das hat sich verändert. Viele junge Kolleginnen haben heute interessanterweise kein Problem damit. Heute läuft ohnehin manches anders als früher. Die Verweildauer der Kolleginnen an einem Ort zum Beispiel. Früher gab es schon welche, die herumgereist sind oder in Terminwohnungen an anderen Orten gearbeitet haben. Heute ist das fast ein Muss, um finanziell über die Runden zu kommen.


Die moderne Sexarbeiterin braucht eine Marketingausbildung?

Verkaufen gehört zum Handwerk absolut dazu. Es gibt bisher nur selten branchenspezifische Fortbildungsmöglichkeiten. Das Wissen wird oft nicht weitergegeben.

Warum nicht?

Einerseits will man sich keine Konkurrenz schaffen, andererseits arbeiten wir viel isolierter oder sind ständig auf Achse und treffen keine Kolleginnen mehr. Sehr viele von uns arbeiten seit dem neuen Gesetz im Untergrund, weil sie sich nicht als »Prostituierte« registrieren wollen.

Keine Solidarität unter Sexarbeiter*innen?

Das ist nicht anders als in anderen Branchen auch. Allerdings schweißt uns die gesellschaftliche Stigmatisierung immer weiter zusammen. Veranstaltungen wie der Hurenkongress im August in Berlin fördern Austausch und Solidarisierung in der Branche.

In Ihrem Studio arbeiten auch vier Männer. Wen bedienen die?

Unsere Kunden sind vor allem Männer, da muss man schon ehrlich sein. Aber die Zahl der Kundinnen bei uns im Studio steigt. Männliche Sexarbeiter allerdings, die nur Frauen bedienen und davon leben können, gibt es nur sehr wenige. Bezahlter Sex für Frauen ist heute noch immer schwer möglich.

Warum?

Hier wirken erlernte Rollenmuster nach: In der Sexarbeit sind vor allem Männer die Nehmenden und Frauen die Gebenden. Das gilt seit Jahrtausenden, umgekehrt funktioniert das noch nicht. Das liegt aber auch an den Frauen als potenzielle Sexkäuferinnen. Sie müssen sich erst mal klarmachen, dass bezahlter Sex – besser: erotische Dienstleistungen – für sie was Schönes sein könnte.


Gibt es denn überhaupt ausreichend Angebote für Frauen?

Das ist das nächste Problem. Es gibt nahezu nichts, fast alle einschlägigen Seiten im Netz sind auf Männer zugeschnitten. Meine auch. Aber ich bekomme dennoch erstaunlich viele Anfragen von Frauen. Unabhängig davon hängen viele Frauen nach wie vor dem Gedanken an, nur mit jemandem Sex haben zu können, den sie lieben. Das ist nicht als Kritik gemeint.
Bei der Einsamkeit in den Großstädten könnte Prostitution für Frauen als Kundinnen ein Riesengeschäft sein. Wir hier im Studio überlegen bereits, wie wir mehr Frauen als Kundinnen erreichen.

Und wie?

Wissen wir selbst noch nicht genau. Die Kundinnen, die wir bereits haben, buchen häufig eine Session bei einer Frau, obwohl sie selbst nicht lesbisch sind.

Aha.

Sie fühlen sich von einer Frau eher angesprochen, haben das Gefühl, sich besser gehen lassen zu können.


Wie sieht es mit der Bezahlung aus? Gleicher Lohn für gleiche Arbeit oder Gender Pay Gap?

Bei mir müssen alle dasselbe bezahlen. Aber ich habe auch Kolleginnen, die für Frauen günstigere Preise machen. Ich persönlich finde Kundinnen oft schwieriger als Kunden, so dass sie eigentlich sogar mehr zahlen müssten.

Wie das?

Die wenigen Frauen, die überhaupt so was machen, haben sich das oft lange überlegt und haben zum Teil sehr spezielle Vorstellungen und Wünsche. Sie sind skeptischer und kaum geübt im Umgang mit professioneller Sexarbeit. Sie trauen sich nicht, richtig loszulegen. Gleichzeitig sind sie anspruchsvoller und erwarten den absoluten Kick. Aber genau das macht die Arbeit mit Frauen auch so spannend.

Frauen als Herausforderung?

Absolut. Viele Frauen erzählen mir beispielsweise, dass sie noch nie einen Orgasmus hatten. Den wollen sie aber dann unbedingt mit mir erleben. Nun ja, ich kann auch nicht zaubern.

Sie könnten einen Orgasmusaufschlag verlangen.

Ich bin in erster Linie eine gute Dienstleisterin und weiß, wie ich vieles hinkriege. Die Frauen, die herkommen, haben mitunter dramatische Dinge erlebt, die ihre Sexualität stark beeinflussen. Ich bin keine Therapeutin, aber ich kann versuchen, eine schöne Zeit für uns beide zu gestalten. Es gibt Kolleginnen, die sich auf dieses »erotische Coaching« spezialisiert haben. An diese verweise ich dann immer.

Zurück zur Ökonomie. Reden über Einkommen ist in Deutschland weitgehend tabuisiert. Wissen Sie voneinander, was Sie verdienen?

Wie hoch der Jahresumsatz jeder und jedes Einzelnen hier ist, ist bei uns ebenso ein Tabuthema wie im Rest der Gesellschaft.

Das Statistische Bundesamt beziffert den Jahresumsatz in der Prostitution zwischen 14 und 15 Milliarden Euro.

Diese Zahl beruht auf einer Schätzung. Sie mag hoch klingen, dürfte aber nicht stimmen. Außerdem kann man sie nicht vergleichen. Für andere Branchen existieren solche Zahlen nämlich erst gar nicht. Wie hoch ist der Jahresumsatz bei selbstständigen Friseur*innen, freien Grafiker*innen oder Journalist*innen? Weiß kein Mensch. Eine Statistik existiert dafür nicht.
Könnte man das nicht ausrechnen? Es soll zwischen 400.000 und 1 Million Prostituierte geben. Diese Zahl multipliziert mit dem von Ihnen bezifferten monatlichen Durchschnittsverdienst, hochgerechnet auf das Jahr – da kommt die Summe schon zusammen.

Dazu müsste man erst mal genaue Zahlen haben. Es gibt Sexarbeiter*innen, die arbeiten nur ein bis zwei Mal im Jahr. Zählen die dazu? Manche Studentinnen verdienen sich im Escort-Service etwas dazu. Sind sie nun Sexarbeiterinnen oder Studierende? Dieser unbändige Wunsch nach Zahlen ist ein verzweifelter Versuch, unsere Branche irgendwie vorstellbar zu machen. Niemanden interessiert es, wie viele Fotografen oder Putzfrauen es gibt.
Die Sexbranche steht im Verruf, etwa 80 Prozent der Einnahmen an der Steuer vorbei einzunehmen. Wieder so eine Zahl, die aufgrund einer Schätzung des Statistischen Bundesamtes herumgeistert. Das Amt hat die gemeldeten Prostitutionsstätten und angemeldeten Sexarbeiter*innen gezählt und das in Bezug gesetzt zu den Einnahmen, die dort verbucht werden müssten, und den Steuern, die gezahlt werden müssten. Viele Prostituierte melden sich beim Gewerbe- und Finanzamt aber gar nicht als Sexarbeiter*innen an, sondern als freiberufliche Grafikerin, Coach oder sonst was. Das ist eine legale Sonderregelung, weil Sexarbeit noch immer stigmatisiert ist. Trotzdem hat jede und jeder von uns eine Steuernummer, und wir zahlen Steuern, da ist das Finanzamt schon hinterher. Auch Bordelle sind oft nicht als Prostitutionsstätte, sondern als Zimmervermietung gemeldet. Früher ging das oft nicht anders.
Aber jede Sexarbeiterin könnte weniger Einnahmen verbuchen, als sie tatsächlich hat.
Theoretisch ja, praktisch eher nicht. Beispielsweise muss für einen Termin oft Raummiete bezahlt werden, dafür gibt es üblicherweise eine Quittung. Und wenn die Einnahmen im Vergleich zur bezahlten Raummiete unverhältnismäßig gering sind, hat man ganz schnell eine Steuerprüfung am Hals. Prostitutionsstätten werden ohnehin sehr häufig von Steuerprüfer*innen und vom Zoll kontrolliert.

Wie oft werden Sie kontrolliert?

In Berlin etwa ein bis vier Mal im Jahr vom Zoll. So viel wie sonst nur die Baubranche, um der Schwarzarbeit auf die Schliche zu kommen.

Durch die EU-Freizügigkeit dürfen Sexarbeiter*innen aus Osteuropa seit einigen Jahren legal in Deutschland arbeiten. Ist das ein einträgliches Geschäft?

Für die Osteuropäer*innen auf jeden Fall, sie verdienen hier in der Prostitution mehr, als sie mit jedem anderen Beruf im Heimatland verdienen würden. Sie kommen für ein paar Monate her, arbeiten oft in verschiedenen Städten und fahren danach zurück nach Hause. Viele kommen nach ein paar Monaten wieder. Das heißt nicht, dass diese Menschen Sexarbeit als einen tollen Beruf ansehen. Oft ist es der Mangel an Alternativen. Mit der Sexarbeit ernähren sie ihre Familien.

Man liest immer wieder von »ganzen Busladungen« voller Männer, die in Deutschland in den Puff gefahren werden. Was ist dran?

Schauen Sie aus dem Fenster, sehen Sie vor unserem Studio Schlangen von Bussen? Selbst in den großen Bordellen mit weit mehr als 10 Zimmern kommen selten Großgruppen an. Wir Sexarbeitenden würden uns über manche Busladung ja freuen, so könnten wir uns eine goldene Nase verdienen.
Sexarbeit ist im gesellschaftlichen Image eben noch kein Beruf wie jeder andere auch.
Nein, das muss es ja auch nicht. Wir wollen aber nicht nur Pflichten, sondern auch Rechte haben. Und wir wollen einfach nur in Ruhe arbeiten.

Sie können auf Mindestlohn bestehen.

(lacht) Das funktioniert ja leider bei selbstständigen Tätigkeiten nicht. Wir könnten über das bedingungslose Grundeinkommen sprechen. Aber lassen Sie es mich – scherzhaft – so formulieren: Sexarbeit als Dienstleistung und privater Sex als Ehrenamt.