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Die Geschichte von der Lohnhochwertung

Für viele Ostdeutsche bringt das neue Rentenüberleitungsgesetz Nachteile

  • Hans Mittelbach
  • Lesedauer: 8 Min.

Mit dem kürzlich beschlossenen Rentenüberleitungs-Abschlussgesetz sollen schrittweise die ostdeutschen Rentenwerte und die Berechnung der Entgeltpunkte an das Westniveau angeglichen werden. Der aktuelle Rentenwert in den neuen Ländern für das Jahr 2016 lag mit 94,1 Prozent unter dem Westniveau und soll bis 2024 auf 100 West angehoben werden. Soweit die gute Nachricht. Im Gegenzug wurde festgelegt, dass die so genannte Hochwertung der ostdeutschen Entgeltpunkte schrittweise bis 2025 abgeschafft werden soll.

Unter Abschaffung der Hochwertung der niedrigeren Löhne Ost versteht man im neuen Gesetz, dass schrittweise bis und ab 2025 vollständig die Entgeltpunkte Ost berechnet werden, indem die niedrigeren ostdeutschen Löhne künftig nicht mehr durch den entsprechend niedrigeren Durchschnittslohn Ost, sondern durch den höheren Durchschnittslohn West dividiert werden - also niedriger ausfallen, wenn es bis 2025 keine Lohnangleichung gibt.

Der Autor

Dr. Hans Mittelbach, Jahrgang 1935, ist Wirtschaftswissenschaftler. In der DDR arbeitete er im Ökonomischen Forschungsinstitut der Staatlichen Plankommission sowie u.a. als Sektorenleiter für Sozialpolitik an der Akademie der Wissenschaften. Auch nach der deutschen Vereinigung beschäftigte er sich publizistisch mit sozialpolitischen Themen; u.a. veröffentlichte er das Buch »Lohn- und Kapitaleinkommen in Deutschland 1990 bis 2010«.

Die Autoren des Rentenüberleitungs-Abschlussgesetzes gehen davon aus, dass es bis 2025 keine Lohnangleichung geben wird. Dass bedeutet, dass das neue Gesetz zu einer drastischen Absenkung der Rentenansprüche für die künftigen ostdeutschen Beitragszahler und Rentner führen wird und dies vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Erwerbsbiografien künftiger ostdeutscher Beitragszahler und Rentner in den vergangenen 30 Jahren oft durch längere Arbeitslosigkeit unterbrochen waren und sie dadurch weniger Rentenansprüche erwerben konnten.

Dem neuen Gesetz zufolge werden die Rentenansprüche der künftigen ostdeutschen Rentner bei der Berechnung der ostdeutschen Entgeltpunkte durch die Formel »Niedrigere Löhne Ost dividiert durch den Durchschnittslohn West« um 8 bis 10 Prozent sinken. Bei einer Rente von 1000 Euro im Monat sind das ohne entsprechende Angleichung der Löhne 1200 Euro pro Jahr. Die Angleichung der aktuellen Rentenwerte ist bei dieser Berechnung schon berücksichtigt.

Da Ostdeutschland bezüglich der Lohnbildung immer noch ein gesonderter Rechtsraum ist (von den Juristen Rechtszirkel genannt) , in dem flächendeckend für die gleiche Arbeit im gleichen Beruf wesentlich niedrigere Löhne gezahlt werden, stellt sich umgekehrt die Frage, wieso es gerecht sein soll, bei der Rentenberechnung den Durchschnittslohn West als Bezugsgröße zu verwenden, solange nicht der gleiche Lohn für die gleiche Arbeit im gleichen Beruf gezahlt wird.

Um eine Bevorteilung der ostdeutschen Rentner durch die so genannte Hochwertung nachweisen zu können, wurde im Entwurf zum Rentenüberleitungs-Abschlussgesetzes eine Beispielrechnung für das Jahr 2016 durchgeführt, bei der von gleich hohen Löhnen in Ost und West in Höhe von 35 880 Europro Jahr ausgegangen wird. Dieser unterstellte gleich hohe ostdeutsche Lohn wird nun in der Begründung des neuen Gesetzes mit dem Hochwertungsfaktor 1,1479 multipliziert. Dadurch ergibt sich ein fiktiver ostdeutscher Lohn in Höhe von 41 187 Euro pro Jahr.

Die fälschlicherweise als gleich hoch angenommenen ostdeutschen Löhne wurden mit dem Hochwertungsfaktor multipliziert. Bei dieser Berechnung muss natürlich eine hohe Bevorteilung der ostdeutschen Rentner herauskommen. Bei der falschen Annahme gleich hoher Löhne in Ost und West ergab sich daher 2016 für ostdeutsche Beitragszahler ein Rentenertrag von 33,72 Euro und für den westdeutschen Beitragszahler nur ein Rentenertrag von 30,72 Euro, also ein um 9,76 Prozent niedrigerer Ertrag. Dieses Ergebnis zeigt, dass ein höherer Rentenertrag Ost nur auf der falschen Annahme beruht, dass die Löhne in Ost und West für die gleiche Arbeit schon gleich hoch sind.

Wenn man von den realen Lohnunterschieden zwischen Ost und West ausgeht und in der obigen Berechnung einen individuellen Lohn Ost einsetzt, der dem niedrigeren ostdeutschen Durchschnittslohn entspricht, ergibt sich für die gleiche Arbeit im gleichen Beruf kein höherer Rentenertrag Ost, sondern für das Jahr 2016 nur ein Rentenertrag von 29,69 Euro, der um 4,43 Prozent niedriger ist als der westdeutsche Rentenertrag.

Die ostdeutschen Löhne erreichen nach der Rentenstatistik im Durchschnitt nur 86 Prozent des Westniveaus. Wenn die Durchschnittslöhne in Ost und West schon angeglichen wären, wäre es ungerecht, die ostdeutschen Löhne mit einem Hochwertungsfaktor zu multiplizieren. Das wird aber bis 2025 nicht der Fall sein.

Diesen Berechnungen liegt der von der Rentenversicherung ermittelte Durchschnittslohn Ost für 2016 in Höhe von 31 593 Euro und der Durchschnittslohn West in Höhe von 36 267 Euro zugrunde. Der ostdeutsche Durchschnittslohn war also 2016 noch 13 Prozent niedriger als der westdeutsche Durchschnittslohn.

Außerdem: Die Lohnunterschiede zwischen Ost und West sind noch größer als in der Rentenstatistik ausgewiesen, wenn konkrete Lohnlisten für die gleiche Arbeit im gleichen Beruf verglichen werden. Im Jahre 2019 verdiente ein westdeutscher Metallarbeiter 2292 Euro, ein ostdeutscher jedoch nur 1829 Euro im Monat, also nur rund 80 Prozent des westdeutschen Lohnes. Ein Kfz-Mechaniker West verdiente 2233 Euro, ein ostdeutscher 1598 Euro (= 72 Prozent), ein westdeutscher Werkzeugmacher 2447 Euro, ein ostdeutscher 1835 Euro (= 75 Prozent). Zur Lohnabwertung kommt dann noch die Rentenabwertung.

Würde man die für 2025 vorgesehenen Rechengrößen schon für das Jahr 2016 anwenden, wäre der ostdeutsche Rentenertrag 8,7 Prozent niedriger als der westdeutsche Rentenertrag. In dieser Größenordnung wird auch der Rentenertrag für die gleiche Arbeit für die künftigen ostdeutschen Rentner im Jahr 2025 niedriger liegen.

Die Hochwertungsfaktoren spielen auch in anderer Hinsicht im Rentenüberleitungs-Abschlussgesetz eine negative Rolle. Die Hochwertungsfaktoren werden berechnet, indem der Durchschnittslohn West durch den Durchschnittslohn Ost geteilt wird. Im neuen Gesetz ist festgelegt, dass die Hochwertungsfaktoren in linear absteigender Linie bis 2025 abzuschmelzen sind, unabhängig davon, ob sich die Durchschnittslöhne Ost und West in gleichem Maße an das Westniveau angleichen. Das neue Gesetz basiert daher auf einer rein fiktiven Angleichung der Durchschnittslöhne Ost an die Durchschnittslöhne West bis 2025.

Zu dieser Schlussfolgerung kommt auch Josef Schott, einer der Autoren des Rentenüberleitungs-Abschlussgesetzes: »Für etwa 6 Millionen Arbeitnehmer im Osten bedeutet die Neuregelung allerdings, dass sie in Zukunft etwas schlechter gestellt sein werden als heute: die bisherige Hochwertung der Ostlöhne auf das Westniveau und der darin enthaltenen Vorteil gegenüber einem Arbeitnehmer im Westen entfällt schrittweise und für die Löhne ab dem 1. Januar 2025 vollständig. Vor allem die jüngere Arbeitnehmergeneration im Osten wird ihre vergleichsweise niedrigeren Löhne verstärkt mit in die zukünftige Rente nehmen.«

Nicht eine vermeintliche Hochwertung der niedrigeren ostdeutschen Löhne bei der Rentenberechnung ist das Problem, sondern die seit 30 Jahren in Ostdeutschland bestehende Lohnabwertung für die gleiche Arbeit im gleichen Beruf. Solange Ostdeutschland bezüglich der Entlohnung noch ein gesonderter Rechtsraum ist, ist es auch rechtlich geboten, dass die Entgeltpunkte Ost durch die Formel Löhne Ost/Durchschnittslohn Ost berechnet werden und nicht durch den Quotienten niedrigerer Lohn Ost/höherer Durchschnittslohn West. Wenn sich der Durchschnittslohn Ost bzw. die Löhne Ost für die gleiche Arbeit im gleichen Beruf angleichen, löst sich das Problem der Angleichung der Rechengrößen für die Berechnung der Rentenansprüche von selbst.

Eine Rechtsgleichheit besteht erst dann, wenn die Einkommensgleichheit hergestellt ist, insbesondere bei der Entlohnung und damit auch bei der Berechnung der Renten. Sollte das Rentenüberleitungs-Abschluss-Gesetz in diesem Punkt nicht korrigiert werden, bekommt zum Beispiel zukünftig ein ostdeutscher Kfz-Mechaniker, der im Jahr 2019 die gleichen Autos repariert wie sein westdeutscher Kollege, immer noch einen um 28 Prozent niedrigeren Lohn und auf diesen niedrigeren Lohn auch noch eine geringere Rente.

Auf westdeutscher Seite ist die Meinung verbreitet, dass die Ostdeutschen weniger in die Rentenkassen eingezahlt haben und im Verhältnis dazu eine höhere Rente erhalten. Diese Auffassung hat sich bei der Nachrechnung nicht bestätigt. Sie ist auch aus einem ganz anderen Grund nicht gerechtfertigt. Die alten Bundesländer haben 70 Jahre in hohem Maße von der Zuwanderung gut ausgebildeter »Beitragszahler« aus Ostdeutschland profitiert. Von 1949 bis 1961 sind 2,7 Millionen, von 1962 bis 1988 immerhin 665 000 und seit der deutschen Einheit zwei Millionen Menschen von Ost- nach Westdeutschland abgewandert. Die Zuwanderer wurden auf Kosten der ostdeutschen Bevölkerung großgezogen und ausgebildet.

Das Leibniz-Institut Halle hat kürzlich eine Studie »Vereintes Land - drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall« veröffentlicht. In dieser Studie wird eine neue Theorie verkündet, um die niedrigeren Löhne in den neuen Ländern zu rechtfertigen. »Die Lücke, die die neuen Länder bei der Produktivität aufweisen, entspricht der Lücke bei den Löhnen.« Die niedrigere Produktivität sei nicht nur auf die fehlenden Großbetriebe zurückzuführen, sondern auch bei den mittleren und kleineren ostdeutschen Unternehmen zu beobachten.

Damit will man wohl sagen, das liege an der Mentalität der Ostdeutschen. Um Gegenargumenten vorzubeugen, wird gleichzeitig festgestellt, Ostdeutschland weise »keinen generellen Kapitalmangel« auf. Um nur einen Kritikpunkt an dieser These zu nennen: Unerwähnt bleibt die entscheidende Tatsache, dass die Ausrüstungsinvestitionen pro Einwohner, also die Investitionen, die für die Produktivitätsentwicklung maßgebend sind, in den neuen Ländern immer viel niedriger waren als in den alten Bundesländern ( 2017: 63 Prozent), und das in einer Situation nach 1990, in der der Nachholbedarf nach der De-Industrialisierung durch die Treuhand besonders groß war.

Dass die Produktivität in den neuen Ländern 20 Prozent niedriger ist, wenn die Ausrüstungsinvestitionen pro Kopf langfristig 40 Prozent niedriger waren, erklärt wohl den Produktivitätsrückstand, auch wenn 42 Milliarden Zuschüsse von 1991 bis 2017 für die Regionalförderung ausgegeben wurden. Dabei ist zu berücksichtigen ist, dass ein großer Teil der Investitionen in den neuen Ländern Bauinvestitionen waren.

Die Abwanderung von Ost nach West wird künftig wieder zunehmen, wenn sich bis 2025 die Löhne nicht angleichen und die Rentenanwartschaften durch das neue Rentenüberleitungs-Abschlussgesetz für die künftigen ostdeutschen Rentner um acht bis zehn Prozent niedriger ausfallen. Auch in den neuen Ländern sind schon seit Jahren nicht mehr genügend Facharbeiter verfügbar. Prognos Basel sieht in der jüngsten Studie in der ungleichen demografischen Entwicklung den wesentlichen Hemmfaktor für den Aufholprozess Ost. Mit weiteren niedrigeren Löhnen und auch noch geringeren Renten verschlechtert sich die ostdeutsche Position im Wettstreit um die Fachkräfte noch mehr.

Die Politik trägt eine besondere Verantwortung dafür, nach fast 30 Jahren das Versprechen endlich einzulösen, mehr in die ostdeutsche Industrie zu investieren und die Löhne anzugleichen. Eine breitere industrielle Basis ist in den ostdeutschen Ländern auch eine bessere Voraussetzung für die Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen bei dem bevorstehenden Kohleausstieg.

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