nd-aktuell.de / 15.08.2019 / Politik / Seite 2

Eine Wolke der Ungewissheit

Afghanistan-Abkommen zwischen den USA und den Taliban verzögert sich weiter

Thomas Ruttig

»Wir haben unser Treffen verlängert, in der Hoffnung, ein Friedensabkommen zu erreichen, aber es ist nicht dazu gekommen«, zitierte die Nachrichtenagentur Reuters Anfang der Woche ein anonymes Mitglied der Taliban-Delegation, der in Katars Hauptstadt Doha an den Verhandlungen über ein Friedensabkommen für Afghanistan teilgenommen hatte. »Wir haben eine Reihe von Fragen diskutiert und Konsens über einige erzielt, aber wir konnten zu keinem Abschluss kommen.«

Am Montag war die achte Verhandlungsrunde zwischen den USA und den afghanischen Taliban für beendet erklärt worden. Die Delegationsleiter - Sondergesandter Zalmay Khalilzad für Washington und Taliban-Vizechef Mulla Abdul Ghani Baradar - gaben bekannt, sie müssten nun sie ihre jeweiligen Führungen »konsultieren«. Hartnäckigen Gerüchten zufolge sollte das Abkommen schon vergangene Woche in Doha unterschrieben und mit einem Handschlag noch vor dem islamischen Opferfest, das am Dienstag in Afghanistan zu Ende ging, öffentlichkeitswirksam besiegelt werden. Fernsehteams waren bereits vor Ort. Dann aber wurde auch während des Festes weiterverhandelt und es gab noch einmal Hoffnung, das Abkommen würde nun vor dem afghanischen Unabhängigkeitstag am 19. August fertig sein. Dass nun weitere Konsultationen nötig sind zeigt, dass es bei einigen Themen weiter hakt.

Das Abkommen soll aus vier Teilen bestehen. Über zwei - den Abzug der US- und aller anderen ausländischen Truppen sowie Anti-Terrorismus-Garantien der Taliban - bestand im Prinzip schon seit Januar zwischen beiden Seiten Einigkeit. Khalilzad nannte es damals eine »Rahmenabkommen«. Er hat auch seine Position klar gemacht: nichts sei vereinbart, so lange nicht alles vereinbar sei - also alle vier Punkte. Beim Truppenabzug gibt es die größten Überschneidungen. Präsident Donald Trump will die Truppen schnellstmöglich abziehen, noch vor der nächsten Wahl in seinem Land. Auch die Taliban wollen, was sie die »US-Okkupation« nennen, schnellstmöglich beenden. Sie verlangen, dass im Abkommen ein Zeitplan für den Abzug sowie dessen internationale Überwachung festgeschrieben wird. Mit den US-Truppen würden auch die 8500 Soldaten aus anderen Ländern, darunter knapp 1500 von der Bundeswehr, abziehen.

Die Taliban garantierten im Gegenzug, dass Gruppen wie al-Qaida und der Islamische Staat (IS) Afghanistan nicht wieder zum Ausgangspunkt für internationalen Terrorismus machen können. Dem Vernehmen nach sollen diese Garantien vorläufig nur für die von ihnen kontrollierten Gebiete gelten. Den Konkurrenten IS bekämpfen die Taliban bereits vehement; bei al-Qaida ist die Sache weniger klar. Sie wollen sich bisher nicht öffentlich von den früheren Verbündeten distanzieren. Es ist auch schwer vorstellbar, dass sie ihre muslimischen Kampfesbrüder an die USA oder die Herkunftsländer ausliefern.

Die frühe Teileinigung im Januar überdeckte, dass es in Details selbst bei diesen beiden Punkten noch Uneinigkeit gab. Dazu kommen Probleme bei der Sequenzierung der vier Verhandlungspunkte, also die Reihenfolge ihrer Umsetzung. Umstritten ist etwa, ab wann und über welchen Zeitraum der Abzug erfolgen soll. US-Medien berichteten, die Taliban bestehen auf eine Frist von höchstens zwölf Monaten. Da bis zur nächsten Wahl in den USA, im November 2020, von heute an ohnehin nur 15 Monate verbleiben, dürfte man sich hier einigen können.

Ein weiteres Problem stellen Ideen in Teilen der US-Regierung und des Militärs dar, eine - wie in Irak - als Botschaftswache getarnte Anti-Terrorismus-»Reststreitmacht« im Land zu belassen. Trump will zudem eine »Geheimdienstkomponente« in Afghanistan beibehalten. Die Taliban beharren darauf, dass nach Abkommensschluss »kein einziger« ausländischer Soldat in Afghanistan bleiben dürfe. Aber die CIA verfügt in Afghanistan über eine Reihe von Anti-Taliban-Milizen, die außerhalb der afghanischen Befehlskette stehen und weiter ohne direkte US-Beteiligung eingesetzt werden könnten. Taliban-Chef Hebatullah Achundsada beschwerte sich neulich, die USA hätten mit widersprüchlichen Statements eine »Wolke der Ungewissheit« über ihre Absichten erzeugt.

Noch völlig offen sind offenbar zwei weitere Punkte: die Beteiligung der afghanischen Regierung an den Gesprächen und ein langfristiger Waffenstillstand. Die Taliban betrachten die afghanische Regierung als »illegitim« und unter US-Besatzung als handlungsunfähig. Sie weigern sich die Regierung in irgendeiner Form anzuerkennen und wollen deshalb keine Direktgespräche mit ihr. Um diese Hürde zu umgehen, hat Khalilzad das Konstrukt eines »inklusiven nationalen Verhandlungsteams« ersonnen. Das soll nach Abschluss des bilateralen Abkommens sogenannte innerafghanische Gespräche mit den Taliban über das künftige politische System des Landes aufnehmen. Er kann sich darauf berufen, dass die Taliban schon mit Einzelvertretern Kabuls, wenn sie »in persönlicher Kapazität« auftraten, sprachen - wie zuletzt im Juli beim innerafghanischen Dialog in Katar, mitorganisiert von Deutschland.

Das »nationale Team« stellt allerdings die Regierung von Präsident Aschraf Ghani auf eine Stufe mit der politischen Opposition, was er als Delegitimierung seiner gewählten und international anerkannten Regierung empfindet. Zudem will die Opposition ihn bei der bevorstehenden Präsidentenwahl am 28. September ablösen. Allerdings steht Ghanis Legitimität auf schwachen Füßen. Seine Amtszeit ist bereits seit Mai abgelaufen, und die Opposition dringt auf die Bildung einer neutralen Übergangsregierung, die die Wahlen überwachen soll. In diese Regierung, so Khalilzads Vorstellung, könnten auch die Taliban schon eintreten.

Ghani verhält sich deshalb nicht immer konstruktiv, verschleppt zum Beispiel die Ernennung der 15-köpfigen Delegation für die Verhandlungen. Obwohl das angesichts der politischen Fragmentierung im Land auch ein Balanceakt ist, wird ihm das im Land und unter Diplomaten eher als Sabotage an einem Friedensschluss ausgelegt. Trotzdem wird Ghani kaum eine andere Wahl haben, als bei den innerafghanischen Gesprächen mitzumachen. Sonst könnte er bei einer Friedenslösung außen vor bleiben.

Unklar ist andererseits, ob sich die Blockadehaltung der Taliban ändern würde, sollte ein Ghani-Gegner die September-Wahl gewinnen - die sie allerdings ablehnen und angreifen wollen. Eine von Khalilzad vorgeschlagene, das ganze Land umfassende, Waffenruhe, die schon zum nun vergangenen islamischen Opferfest beginnen sollte, hatten die Taliban in Doha abgelehnt. Vor einer Waffenruhe sollen erst die Truppen abziehen. Zudem machten sie klar, dass auch nach einem bilateralen Abkommen mit den USA eine Waffenruhe nur für die westlichen Truppen gelten werde. Eine Waffenruhe mit den afghanischen Streitkräften müsse bei den innerafghanischen Gesprächen vereinbart werden.

Weit auseinander liegen auch die Positionen, wie Afghanistans künftiges politisches System aussehen soll. Die Taliban wollen zum Emirat zurückkehren, haben allerdings auch erklärt, kein politisches Monopol mehr anzustreben. Es ist durchgesickert, dass bei den Gesprächen ein Staatsaufbau wie in Iran debattiert wurde. Das heißt ein System mit Wahlen, einem Präsidenten und Parlament - aber mit einem Islamischen Aufsichtsrat, der darüber herrscht. Es ist unklar, welche Seite diese Idee aufgebracht hat. Zudem bestehen Zweifel darüber, ob die Taliban dem Prinzip »eine Person, eine Stimme« zustimmen würden; bisher haben sie sich dazu nie eindeutig geäußert.

Ghani, die Opposition und die Zivilgesellschaft wollen hingegen die gegenwärtige Republik und die damit verbundenen Rechte und Freiheiten beibehalten. Afghanistan ist allerdings offiziell eine Islamische Republik, also schon ein Zwitterwesen, und auch in Regierung und Opposition gibt es starke Kräfte, die westliche Demokratieformen ablehnen. Da könnte sich eine bisherige politische Scheidelinien überschneidende Koalition bilden.

Im Moment ist unklar, wann innerafghanische Verhandlungen überhaupt beginnen können. Angesichts der komplexen Situation nach 40 Jahren Krieg werden innerafghanische Verhandlungen, egal in welchem Format, einige Zeit beanspruchen. Sollten sie scheitern, wäre eine neue Runde der alten Fraktionskriege sehr wahrscheinlich. Klar ist: Die Taliban stellen mit ihrer Blockadehaltung derzeit das größte Hindernis für den Frieden dar. Klar ist auch, dass ein Abkommen zwischen den USA und den Taliban allein den Krieg nicht beenden wird und auch noch kein Friedensabkommen darstellt. Voraussetzung für tatsächlichen Frieden ist, dass sich Taliban, Regierung, Oppositionsparteien und die Zivilgesellschaft, einschließlich der Frauenverbände, auf eine politische Nachkriegsordnung verständigen. Die steht bei den US-Taliban-Gesprächen aber nicht zur Debatte.

Der Autor ist Ko-Direktor des Afghanistan Analysts Network (Kabul/Berlin)