Befriedung statt Frieden

Nordirland - gescheiterter Staat?

  • Dieter Reinisch
  • Lesedauer: 3 Min.

Am 19. Januar 2019 explodierte eine Autobombe vor dem Gerichtsgebäude in Derry. Die »Neue IRA« bekannte sich zu dem Anschlag, bei dem niemand verletzt wurde. In den Folgemonaten war die Organisation verantwortlich für eine Serie von Briefbomben in England und Schottland und die Erschießung der unbeteiligten Journalistin Lyra McKee während Unruhen am Gründonnerstag in Derry. Was aber sagen die Aktivitäten der »Neuen IRA« bezüglich des Karfreitagsabkommens von 1998, das den die Insel drei Jahrzehnte bestimmenden Konflikt beenden sollte? Kommentatoren und Politiker beziehen die neue Unruhe in Nordirland auf das Szenario eines »No-Deal-Brexit«: Dass abermals eine bewachte Grenze durch die irische Insel drohe, werfe nun seine Schatten voraus.

Der Belfaster Autor Liam O›Ruairc - ein ehemals führendes Mitglied der Irisch-Republikanischen Sozialistischen Partei und früherer Herausgeber des Diskussionsmediums »The Blanket« - ist anderer Meinung. In seiner bei Zero Books erscheinenden Studie »Peace or Pacification? Northern Ireland After the Defeat of the IRA« erläutert er, dass das Wiedererstarken radikaler Kräfte weniger mit dem EU-Austritt Großbritanniens zu tun hat als vielmehr mit einem faktischen Scheitern des Friedensprozesses. Der Wandel von IRA und der Partei Sinn Féin von einer revolutionären zu einer konstitutionellen Bewegung brachte keinen Frieden. Die »Niederlage« der IRA, so O‹Ruairc, manifestiere sich darin, dass der republikanischen Ideologie ihr transformativer Horizont abhanden kam. Der republikanische Kampf sei umgedeutet worden - weg vom Ziel einer vereinten sozialistischen Republik, hin zu einem Kampf um Bürgerrechte und Identität.

Noch in den 1970ern sahen irische Republikaner und ihre internationalen Unterstützer Nordirland als Relikt des untergehenden britischen Kolonialismus. Der Friedensprozess aber besiegelte die Auffassung, es gehe nur um einen Kampf für die Rechte der katholischen Minderheit innerhalb Großbritanniens. Echten Frieden, so O›Ruairc, habe es aber nicht gegeben, nur eine Befriedung zu britischen Bedingungen: Die IRA gab die Waffen ab und machte einen großen Schritt - während die Gegenseite nicht viel unternahm. Die sozialen und politischen Probleme, die hinter dem Konflikt standen, sind bis heute nicht gelöst. Die einstige Industrieregion ist heute einer der ärmsten Landstriche Europas. Wenn es Arbeit gibt, dann bei der öffentlichen Hand, ein Privatsektor existiert kaum. Die Jugendarbeitslosigkeit ist exorbitant und selbst die Lebenserwartung ist in vielen katholischen Arbeiterbezirken gering. Nordirland hat die höchste Selbstmordrate Großbritanniens - seit 1998 haben mehr Menschen Suizid begangen, als zuvor bei Kampfhandlungen gestorben waren.

Diese Lage liefert Radikalen wie der »Neuen IRA« die Rekruten: Arbeitslose Jugendliche, die zwar oft erst nach dem Karfreitagsabkommen geboren wurden - und doch voll Wut sind auf das politische System, ihre Lebensbedingungen und auch die nach wie vor harte Repression der Polizei. Es trifft zwar zu, dass die Unsicherheit rund um den Brexit Öl ins Feuer gießt. Doch weil die gegenwärtige Misere in den EU-Zeiten Großbritanniens gewachsen sind, spielt nun auch der Brexit eher eine Nebenrolle. Der radikale Republikanismus, der wieder an Zulauf gewinnt, zielt wie eh und je auf eine vereinte irische Republik und Sozialismus.

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Auf dem Kontinent wird oft übersehen, dass Nordirland auch seit dem Karfreitagsabkommen nie von politischer Gewalt frei war. Die über 100 Menschenleben, die sie seither forderte, können nur im Licht der vorherigen Lage als niedriges Level gelten. Nordirland ist auf dem Weg zu einem scheiternden Staat, in dem die Jugend keine Perspektive sieht. So wenig, wie heute die Bedingungen für einen wirklichen Frieden bestehen, ist es der Brexit allein, der den Krieg zurückbringen könnte.

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