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Ein Sozialarbeiter, der Kühe melkt

In Österreich haben Beschäftigte die Möglichkeit, ein Jahr lang mal etwas anderes auszuprobieren.

  • Katharina Schwirkus
  • Lesedauer: 6 Min.

In Deutschland wird über viele politische Fragen gestritten. In einer Sache sind sich jedoch alle einig: Weiterbildung ist wichtig. Denn über lebenslanges Lernen und Qualifikation, so heißt es, erlangen die Menschen die Fertigkeiten, um im Informationszeitalter und in der Wissensökonomie zu bestehen. Das Wort »Wissensökonomie« zeigt jedoch schon den Haken: In Deutschland werden Weiterbildungsmaßnahmen stark auf die Bedürfnisse des Marktes und damit der Unternehmen ausgerichtet.

Das ist in Österreich anders. Mit der Bildungskarenz gibt es dort ein freieres Modell, das viele gern auf Deutschland übertragen sähen.
Die Bildungskarenz ist ein Programm, das öffentlich fördert, sich weiterzubilden, in andere Berufe reinzuschnuppern oder einfach eine Auszeit zu nehmen. Nutzen können es alle Beschäftigen, die sechs Monate ohne Unterbrechung fest angestellt waren. Die Auszeit kann zwischen zwei und maximal zwölf Monaten dauern, was längere Schulungen ermöglicht, jedoch nur selten ausreicht, um eine gesamte Ausbildung zu absolvieren. Das große Plus an dem Modell: Der Lohnausfall in dieser Zeit wird abgefedert. Nicht vom Arbeitgeber – der muss zwar zustimmen, aber keine Kosten tragen – sondern vom Arbeitsmarktservice, dem Pendant zur deutschen Bundesagentur für Arbeit. Ähnlich wie beim deutschen Elterngeld richtet sich der Zuschuss nach dem, was man vorher verdient hat, und liegt bei 55 Prozent des Nettoeinkommens. Der Mindestsatz beträgt 14,53 Euro, der Höchstsatz 87 Euro am Tag.

Auszeit für Bildung
  • Bildungskarenz und Bildungsteilzeit bezeichnen die Möglichkeit für Beschäftigte in Österreich, sich von ihrem Job für mehrere Monate vollständig oder teilweise freistellen zu lassen, um sich weiterzubilden. Der Lohnausfall wird durch ein Weiterbildungsgeld aus Mitteln der Arbeitslosenversicherung abgefedert. Voraussetzung sind die Teilnahme an einer Bildungsmaßnahme in einem bestimmten Umfang und Anspruch auf Arbeitslosengeld.
  • Der Arbeitsplatz bleibt in dieser Zeit erhalten. Der Arbeitgeber muss der Auszeit zustimmen.
  • Nach Angaben der Arbeiterkammer Wien waren 23 700 Menschen im Jahr 2017 in Bildungskarenz (0,5 Prozent aller Beschäftigten ohne Beamte) und 7200 in Bildungsteilzeit.
  • Genutzt werden die Instrumente überwiegend von Frauen und von Menschen mit höheren und akademischen Abschlüssen. nd

Worin man sich in dieser Zeit weiterbildet, ist jedem selbst überlassen – Österreich verzichtet auf Prüfung der »arbeitsmarktpolitischen Sinnhaftigkeit«. Nicht zuletzt wegen der öffentlichen Zuschüsse wurde zwar über eine solche Prüfung diskutiert. Am Ende aber setzte sich die Einsicht durch, dass sich kaum objektive Kriterien dafür festlegen lassen. Und deshalb bietet die Bildungskarenz nun im Job Unzufriedenen und Neugierigen fast alle Freiheiten, inklusive Rückkehrrecht in den alten Job.

Wie man sich weiterbildet, bleibt jedem selbst überlassen

Und so kann sich ein Sozialarbeiter wie Andreas Müller auf einer Alm als Bauer versuchen. »Ich habe Verantwortung für 16 Kühe übernommen«, erzählt der 28-Jährige, der vor seiner Bildungskarenz zweieinhalb Jahre bei der Diakonie angestellt war. In Niederösterreich hat er Asylsuchende beraten. Schnell war ihm klar, dass er das nicht sein ganzes Leben machen will. »Um herauszufinden, was ich mir vorstellen könnte und das in Ruhe zu überlegen, habe ich mich für die Bildungskarenz entschieden«, sagt Müller.

Lesen Sie hier: Von Österreich lernen. Wie Gewerkschaften in Deutschland zur Bildungskarenz stehen.

Alle vier Jahre kann man eine Bildungskarenz beantragen, einen Rechtsanspruch gibt es allerdings nicht. »Ein Schwachpunkt«, sagt Michael Tölle von der Abteilung Bildungspolitik der Arbeiterkammer in Wien. »Je nach Branche sind Arbeitgeber mehr oder minder bereit, die Bildungskarenz zuzulassen. Probleme gibt es zum Beispiel im Pflegebereich«, so Tölle. Die Arbeitgeber würden die Karenz nicht bewilligen, wenn sie keine Aussicht hätten, eine Vertretung für die vorübergehend freien Stellen zu finden.

Eingeführt wurde die Bildungskarenz 1998 von der damaligen Regierung aus SPÖ und ÖVP. Vorher hatte sich die Arbeiterkammer für Sabbatjahrregelungen nach dem Vorbild Dänemark eingesetzt. Dort können Arbeitnehmer seit 1995 eine Auszeit nehmen. »Die Arbeiterkammer ist mit diesem Modell auf die Politik zugegangen, um einen Rotationseffekt auf dem Arbeitsmarkt zu erreichen«, sagt Tölle.

Die Teilnehmer*innen der Bildungskarenz müssen einen Teil der Zeit in Weiterbildung investieren. Für Akademiker*innen gilt, dass 8 ECTS-Punkte pro Semester erbracht werden müssen. Das ist mit zwei bis drei Seminaren getan, die als Kompaktseminare auch an zwei Wochenenden absolviert werden können. Menschen ohne Studienabschluss müssen 20 Stunden in der Woche eine Aus- oder Weiterbildung machen. Möglich ist beispielsweise die Teilnahme an einem Sprachkurs, der auch im Ausland stattfinden kann.

Akademiker im Vorteil

Andreas Müller findet, dass Akademiker*innen es leichter haben. In diesem Punkt kritisiert er das Programm. »Die Arbeiterkammer hat von mir, neben den Studienleistungen, keine Nachweise angefordert, was ich in meiner Auszeit gemacht habe«, berichtet er. In seinem Bekanntenkreis haben einige die Bildungskarenz für eine Weltreise genutzt. »Ich finde es nicht schlecht, dass sie die Möglichkeit dazu haben, aber Nicht-Akademikern sollte das auch möglich sein«, sagt Müller. In seinen zwölf Monaten hat er viele Dinge ausprobiert. Besonders gut fand er, mehr Zeit für gesellschaftliches Engagement zu haben. Er arbeitete mit dem »I.L.A Kollektiv«, einer Gruppe, die mit Gewerkschaften kooperiert und politische Bildung anbietet. »Mit einem 40-Stunden-Job hätte ich mich dort nicht so einbringen können«. Zudem hat er bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin ein dreimonatiges Praktikum absolviert. Hier bekam er zusätzlich 440 Euro Praktikumsgehalt, neben den 925 Euro vom Arbeitsmarktservice. Bis zu 450 Euro darf man in der Bildungskarenz monatlich dazu verdienen. Als Sozialarbeiter verdiente er vorher 1550 Euro netto.

Die finanzielle Unterstützung durch den Arbeitsmarktservice findet Müller sehr wichtig: »Mit Ende 20 möchte man nicht mehr vom Geld der Eltern leben.« Für Geringverdiener sind die am letzten Gehalt orientierten Zuschüsse allerdings meist zu klein, um davon über die Runden zu kommen. Die Arbeiterkammer wirbt deshalb zusammen mit den Gewerkschaften für ein neues Modell, das vor allem gering qualifizierte Menschen erreichen und Niedriglöhner besser absichern soll.

Von den neoliberalen Streichungen verschont

Während seiner Zeit auf der Alm war Müllers Freundin auch in Bildungskarenz und sie konnten gemeinsam beim selben Bauern arbeiten. Sie ist ebenfalls Sozialarbeiterin und hat in ihrer Auszeit eine Permakultur-Ausbildung angefangen. Hier lernt sie nachhaltige Lebensformen kennen, die in der Energieversorgung oder in der Landschaftsplanung eingesetzt werden. Diese Ausbildung wird sie nach Ablauf der Auszeit abschließen. Ihr Ziel ist es, landwirtschaftliche Arbeit mit Sozialarbeit zu verbinden.

Dass die im internationalen Vergleich relativ großzügige Bildungskarenz die rechtskonservative Regierung unter Kanzler Sebastian Kurz überlebt hat, hat einige überrascht. Schließlich fuhr die Koalition von ÖVP und FPÖ einen neoliberalen Kurs: Sie erhöhte die zulässige Arbeitszeit auf zwölf Stunden pro Tag, sie kürzte Leistungen für Asylbewerber und beschnitt den Einfluss von Gewerkschaften und Arbeiterkammern auf den Sozialstaat. An die Bildungskarenz allerdings traute sie sich nicht heran.

Als Müller seine Auszeit plante, war dies allerdings keineswegs sicher. Eine Mitarbeiterin der Arbeiterkammer riet ihm daher dazu, mit seinem Antrag nicht zu warten. Was ihm in seinem freien Jahr am besten gefallen hat? »Die Kombination der vielen verschiedenen Tätigkeiten, die ich machen konnte«, sagt er. Mittlerweile ist seine Auszeit seit einem Monat vorbei. In seinen alten Job ist er nicht zurückgekehrt, aktuell sucht er einen neuen – vielleicht in der Erwachsenenbildung oder als wissenschaftlicher Mitarbeiter an einer Universität.

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