nd-aktuell.de / 17.08.2019 / Politik / Seite 9

Neoliberalismus in der Zombiephase

Über Angst als Herrschaftsinstrument in kapitalistischen Demokratien.

Irmtraud Gutschke

Als der Heyne-Verlag im Frühjahr 1990 auf der Leipziger Buchmesse Taschenbücher gratis verteilte (es waren Remittenden, was man in der ständig an Papiermangel leidenden DDR nicht kannte), wunderte ich mich über die Menge an Horrorthrillern. Ich liebte Edgar Allan Poe, aber wer wollte denn diese Art Massenware? Das Genre Horror sei beim Publikum im Kommen, so die »Pressefrau«, weil der Druck im Alltag immer größer werde. Gerade erst hatte ich eine Veranstaltung mit Helmut Kohl auf dem Leipziger Augustusplatz erlebt. Von Lastwagen wurden Schokoriegel in die Menge geworfen. Die bis vor Kurzem bei den Montagsdemos »den aufrechten Gang« beschworen hatten, bückten sich nach der Zuckerware - wenige Tage später die Volkskammerwahl.

Sie kamen aus einem System, das allmähliche Verbesserungen versprach. Wenn sie für ihre Arbeit Westgeld bekämen, so hofften sie, würden sie sich ihre Wünsche schneller erfüllen können. Die Angst kam wie über Nacht. Betriebsschließungen, Entlassungen, der für selbstverständlich gehaltene sichere Boden brach weg. Druck in den Familien, Umschulungshorror - von überallher schallte es, dass man flexibler sein müsse. »Sich verkaufen können« - war man denn eine Ware?

Dabei war all das in der DDR Schulstoff gewesen. Die Ware Arbeitskraft, die Reservearmee der Arbeitslosen, von der das Kapital profitiert, der Staat als Machtinstrument der herrschenden Klasse, die Täuschungen kapitalistischer Ideologie. Als das Abstrakte konkret wurde, reichte die Kraft nur noch fürs Strampeln gegen das Untergehen, am besten mit dem Strom. Die Realität kapitalistischer Ausgrenzungs- und Konkurrenzverhältnisse schwappte über alles Gewusste hinweg. Viele kenne ich, die ein so erhellendes Buch wie das von Rainer Mausfeld aus Furcht vor noch mehr Verunsicherung nicht anfassen würden. Lieber eine neue Couch aussuchen, eine Reise nach Mallorca planen (wenn man nicht Hartz-IV-Empfänger ist) oder einen Horrorfilm anschauen, als zu akzeptieren, dass man vom »Neoliberalismus in der Zombiephase« umgeben ist.

Dass tiefgründige gesellschaftskritische Untersuchungen, zwar vorhanden, kaum ins öffentliche Bewusstsein dringen, ist ein Symptom für die Macht neoliberaler Ideologie. Das System, so lange es fest ökonomisch fundiert ist, kann abweichende Meinungen leicht verkraften. Im Gegensatz zur DDR, die immer auf die Zustimmung der Bevölkerung angewiesen war und dafür Propaganda betrieb, geschieht Meinungsmache hier unterschwellig über die verschiedensten Kanäle. Wobei Rainer Mausfeld, langjähriger Professor für Wahrnehmungs- und Kognitionsforschung an der Universität Kiel, lange schon untersucht hat, mit welchen Techniken es der Macht gelingt, Veränderungsbedürfnisse zu unterdrücken oder umzuleiten. Eine wichtige Rolle, so meint er zu Recht, spielt dabei die Angst.

Einerseits lockt das System mit Konsum im Überfluss, verbunden mit dem Versprechen, dass jeder daran teilhaben könne, der es sich durch Leistung verdient. Andererseits sind solche Plätze an der Sonne nur begrenzt verfügbar. Wer keinen bekommt, soll sich allein die Schuld geben. Angst und Scham, so Mausfeld, disziplinieren gerade diejenigen gesellschaftlichen Gruppen, »die eigentlich das größte Interesse an einer Änderung haben sollten«. Er zitiert den jüngsten Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, nach dem mehr als 13 Millionen Menschen von Armut betroffen sind. Dies und die damit verbundenen Ängste sind »der beste Garant der gewünschten politischen Lethargie der Bevölkerung«. Die latente Unsicherheit, die »völlige Unwissenheit aller im Angesicht eines allwissenden Marktes« führen zu einem Verlust »von Kontrolle über die eigene gesellschaftliche Situation«. Regelmäßig wird in dieser Zeitung auf die Zunahme psychischer Erkrankungen vor dem Hintergrund von Arbeitsstress oder Erwerbslosigkeit verwiesen. 1990 glaubten viele im Osten noch an jene soziale Marktwirtschaft, die sich schon in den 70ern in Richtung eines globalen Neoliberalismus zu transformieren begann. Hinter einer »kulturellen Fassade, die vor allem durch Konsumismus, Zerstreuung und eine alle Lebensbereiche durchdringende Unterhaltungsindustrie geprägt ist«, werden »immer mehr gesellschaftliche Verhältnisse - von politischen und sozialen Institutionen über soziale Beziehungen bis zur Ebene des Individuums selbst - Kriterien der Konkurrenz und der ökonomischen Verwertbarkeit unterworfen«, so Rainer Mausfeld.

Wie antiautoritäre Bestrebungen, die zunächst subversiv erscheinen, ins System eingemeindet werden und das Zerstörungswerk »jeglicher Überzeugung« (Hannah Ahrend) sogar beschleunigen können, wäre ein Thema für sich. Mausfeld zitiert Aldous Huxley, der bereits 1958 die »Entwicklung einer Medienindustrie« voraussah, der »es nicht um richtig oder falsch geht, sondern die sich mit mehr oder weniger völlig irrelevanten Dingen beschäftigt. Mit anderen Worten: Die früheren Vorstellungen über Propaganda haben es versäumt, den fast unersättlichen Drang des Menschen nach Ablenkung durch Nichtigkeiten zu berücksichtigen.«

Mausfeld spricht von »Anti-Intellektualismus« bei Politikern und Journalisten, von »Diskursverrohung«, von »Diskursvermüllung«, wodurch direkte Medienmanipulation überflüssig werde. Zudem führt er Beispiele an, wie die »propagandistische Deklaration einer großen Gefahr X« dem Abbau demokratischer Strukturen dient. Dass demokratische Rhetorik und gesellschaftliche Realität immer weiter auseinanderklaffen, bringt ihn dazu, kapitalistische »Demokratie« lediglich als »eine besonders wirksame und vergleichsweise kostengünstige Form der Revolutionsprophylaxe« anzusehen. Da mag etwas dran sein, aber es entmutigt jene, die durch demokratische Einflussnahme humane Veränderungen des Systems durchsetzen wollen. Palliativtherapie am Krankenbett des Spätkapitalismus? Wann und wie sterben gesellschaftliche Systeme?

Ein Begriff, den Rainer Mausfeld völlig außer Acht lässt, ist die Arbeitsproduktivität. Da lag der Kapitalismus eben gegenüber dem Sozialismus vorn, der ein Prinzip der Gleichheit anstrebte, was mit dem allgegenwärtigen Mangel in Konflikt geriet und mit Gleichmacherei auf niedrigem Niveau einherging. »Solange die Wirtschaft unter privater Kontrolle steht«, schreibt Mausfeld - doch wie soll das geändert werden und mit welchen Folgen? Wenn der Konflikt zwischen Arm und Reich immer tiefer wird, genügt ein Anstoß von außen, dass uns das System um die Ohren fliegt. Mausfeld spricht von verdeckten autoritären Strukturen. Die Gefahr einer offenen Autokratie steigt in der Krise.

Rainer Mausfeld: Angst und Macht. Herrschaftstechniken der Angsterzeugung in kapitalistischen Demokratien. Westend-Verlag, 123 S., br., 14 €.