Kenia ist nicht das Ende der Welt

LINKE in Sachsen-Anhalt lädt zu »Sozialstaatsdialog« ein - was für Wirbel in der Magdeburger Koalition sorgt

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 5 Min.

Man kann nicht gerade sagen, dass sich Stefan Gebhardt und seine Mitstreiter darauf beschränken, kleine Brötchen zu backen. Auf nicht weniger als die »grundlegende Erneuerung des deutschen Sozialstaats« zielt ein Papier, das der Landeschef der LINKEN in Sachsen-Anhalt kurz nach seiner Wahl Ende Juni gemeinsam mit Fraktionschef Thomas Lippmann und etlichen Vorstandskollegen vorlegte. Auf zwölf Seiten geht es um soziale Sicherheit und Demokratie im 21. Jahrhundert, um gescheiterte »Wohlstandsversprechen des deutschen Kapitalismus« und nicht zuletzt die Frage, welche Alternativen es gibt.

In Sachsen-Anhalt allein kann der Kapitalismus nicht überwunden werden - anders zu gestalten wäre er aber sehr wohl. Allerdings wurden alle Regierungen seit 2002 von der CDU geführt, zunächst mit der FDP, dann mit der SPD, jetzt in einer so genannten Kenia-Koalition mit SPD und Grünen. Ergebnis sei jahrzehntelang eine neoliberale Politik gewesen. Erklärtes Ziel des Papiers ist es, eine Basis für eine andere Politik und dazu notwendige Konstellationen zu schaffen - konkret: Rot-Rot-Grün. Man wolle sich mit beiden Parteien auf »gemeinsame Projekte für die Schaffung neuer sozialer und ökologischer Grundlagen der Gesellschaft verständigen«, heißt es in dem Text, in dem auch auf eine diesbezügliche »klare Erwartungshaltung in der Wählerschaft« verwiesen wird. Es gehe um eine »ehrliche Alternative zu Kenia und Schwarzblau«.

Den Autoren ist klar, dass die potenziellen Partner nicht mit wehenden Fahnen die Seiten wechseln werden. Nicht nur, dass sie in die Koalitionsdisziplin eingebunden sind. Gerade in der SPD im Land wirkt womöglich auch noch immer das Wahldebakel nach, mit dem 2002 die rot-rote Tolerierung beendet wurde und das weniger die PDS als die Sozialdemokraten traf. Sie befinden sich zudem aktuell erneut in einer Krise. Dort wie in der LINKEN gibt es große »Verunsicherung« über die Wahlergebnisse seit der Landtagswahl 2016, bei der die LINKE um 7,9 und die SPD gar um 10,9 Prozent einbrach. Auch gebe es »Ressentiments«, weil die drei Parteien teils um die gleichen Wählergruppen konkurrierten.

Andererseits verweist das Papier aber auf erhebliche programmatische Schnittmengen - und den Umstand, dass »keiner allein stark genug« sei, um sie durchzusetzen. Im Bereich der Landespolitik werden etwa Maßnahmen angeführt, die den ausufernden Niedriglohnsektor beschneiden sollen: ein Vergabegesetz, das öffentliche Aufträge an Tariftreue koppelt, oder die Neuausrichtung der Förderpolitik mit gleichem Ziel. Angestrebt wird auch eine Rekommunalisierung von Unternehmen in Energieversorgung, Gesundheitswesen und vielen anderen Bereichen oder eine aktivere Rolle des Landes bei der Bodenpolitik, die wichtig für die Entwicklung des ländlichen Raums ist. Differenzen zwischen SPD und Grünen auf der einen sowie der LINKEN auf der anderen Seite werden mit Blick auf den Nutzen einer Schuldenbremse eingeräumt. Diese sei derzeit aber ohnehin »rechtsverbindlich«, heißt es. Zu überlegen sei indes, wie sich das Land dennoch Spielräume für Investitionen in Zeiten der Flaute sichert.

Adressaten des Aufrufs zum »Sozialstaatsdialog« sind freilich längst nicht nur die beiden Parteien. Er richtet sich auch an Gewerkschaften, Sozialverbände, die Zivilgesellschaft sowie die Kirchen. »Wir brauchen und wollen den breiten gesellschaftlichen Druck«, betont Landeschef Gebhardt. Für den Erfolg der Initiative, ergänzt Fraktionschef Lippmann, sei es »entscheidend«, eine Allianz etwa mit den Gewerkschaften zu schmieden. Lippmann, lange Jahre selbst Landeschef der Gewerkschaft GEW, verweist auf die Erfahrungen bei der Ablösung von Helmut Kohl als Bundeskanzler, auf die nicht zuletzt Gewerkschaften gedrängt hatten - auch wenn sie dann, wie er anmerkt, von der folgenden rot-grünen Bundesregierung um so bitterlicher enttäuscht worden seien.

Auch der Dialog zum Sozialstaat, den Sachsen-Anhalts LINKE in Gang setzen will, zielt letztlich auf einen Regierungswechsel bei der nächsten Landtagswahl, die 2021 stattfindet - wenn die derzeitige Koalition so lange durchhält. Das Bündnis steckt indes mehr oder weniger permanent in der Krise. Vor allem zwischen CDU und Grünen sind die Aversionen groß; zugleich strecken maßgebliche CDU-Politiker die Fühler in Richtung AfD aus. Nach der nächsten Wahl, sagt Gebhardt, »kann man Kenia keinem mehr anbieten« - was aber bedeutet, dass andere Optionen vorliegen müssen. Erst nach dem Wahltag, so auch die Erfahrung anderer Bundesländer, lassen sich diese nur schwer formen. »Es muss wachsen und darf keine Eintagsfliege sein«, sagt Lippmann: »Man wirft nicht einfach den Hut in die Luft, weil man an die Macht will.«

Allerdings hat schon die erste öffentliche Debatte über das Papier für landespolitischen Wirbel gesorgt. Bei einer Klausur der Landtagsfraktion in Wörlitz war es unlängst Thema einer Runde, an der neben dem AWO-Landeschef auch Susann Sziborra-Seidlitz, Landeschefin der Grünen, und SPD-Politiker Andreas Schmidt teilnahm, der in Halle zu den Architekten der gemeinsamen rot-rot-grünen OB-Kandidatur gehört und als möglicher neuer Landeschef der Partei gehandelt wird. Ein Bericht der »Mitteldeutschen Zeitung« über die Runde ließ bei CDU-Politikern den Adrenalinspiegel in die Höhe gehen; ihr Generalsekretär Sven Schulze forderte von den Koalitionspartnern umgehend ein »klares Bekenntnis« zu Kenia und garnierte den Appell zum Treueschwur mit der Einschätzung, bei den Bündnisüberlegungen handle es sich nur um »Hirngespinste«, die auf »Ideen von gestern« basierten. Zudem hätten die drei Parteien bei der Europawahl zusammen nur 36 Prozent der Stimmen erreicht und seien »nicht mehrheitsfähig«. SPD-Fraktionschefin Katja Pähle konterte kühl. Der Koalitionsvertrag werde nicht in Frage gestellt; die Vorhaben bis 2021 sehen »klar verabredet«. Danach aber würden die Karten neu gemischt. Wichtig sei, dass es »in Sachsen-Anhalt perspektivisch wieder Gestaltungsoptionen gibt«, der Einfluss der AfD zurückgedrängt werde - »und wir alle nicht auf ›alternativlose‹ Koalitionen angewiesen sind«. Besser hätten Gebhardt & Co. ihr Anliegen wohl auch nicht formulieren können.

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