Harte Musik im harten Wahlkampf

Brandenburgs SPD hat wieder bessere Chancen, die AfD doch noch zu überholen

15 Minuten vor 11 Uhr fährt ein Transporter am Bahnhof Königs Wusterhausen vorbei, auf dessen Seitenfront das Konterfei von Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) prangt. Er selbst verspätet sich etwas und stößt 15 Minuten nach 11 Uhr zu seinen Genossen, die am Mittwoch auf der Bahnhofstraße um Stimmen bei der Landtagswahl am 1. September kämpfen.

Der hiesige SPD-Direktkandidat Ludwig Scheetz ist pünktlich vor Ort. Welche Koalition bekommen Bürger, die ihr Kreuz bei der SPD machen? Scheetz weicht dieser Frage zunächst mit einem Allgemeinplatz über eine möglichst starke SPD aus. Aber die absolute Mehrheit, die es 1994 einmal gab, ist weiter entfernt denn je. Also, die SPD benötigt nach derzeitigem Stand mindestens zwei Koalitionspartner. Wer soll das sein?

Da ringt sich Scheetz zu einer Ansage durch. Ihm persönlich wäre eine rot-rot-grüne Koalition lieb. Da gebe es auch die größten inhaltlichen Überschneidungen, insbesondere zur Linkspartei. Aber vielleicht doch mit der CDU zu regieren, will Scheetz nicht ausschließen. Das kann er auch nicht. Im Moment sieht es zwar so aus, als könnte es im neuen Landtag eine knappe Mehrheit für Rot-Rot-Grün geben. Aber das könnte auch schiefgehen. Darum hält sich die SPD insgesamt alle Optionen offen - beziehungsweise fast alle Optionen. Mit der AfD will sie sich selbstverständlich unter keinen Umständen einlassen.

Scheetz kennt den AfD-Spitzenkandidaten Andreas Kalbitz, denn der ist im Wahlkreis sein Konkurrent. Außerdem hatte Scheetz Gelegenheit, ihn in der Stadtverordnetenversammlung von Königs Wusterhausen zu treffen, der Kalbitz bis zur Kommunalwahl am 26. Mai fünf Jahre lang angehört hatte. Allerdings sei Kalbitz nur zu 20 der 39 Sitzungen des Stadtparlament erschienen und sei dann oft nicht bis zum Schluss geblieben, berichtet Scheetz. »So viel zum Thema Verantwortung für die Region.«

Da in Brandenburg SPD, AfD, CDU, LINKE und Grüne nicht weit auseinander liegen, scheint in vielen Wahlkreisen fast alles möglich. So könnten den Wahlkreis 27 auch Christian Schroeder (CDU) oder Astrid Böger (LINKE) gewinnen. Eine Besonderheit im Wahlkreis ist, dass Katharina Ennullat als Einzelbewerberin antritt. Sie ist die Frau von Swen Ennullat, dem Bürgermeister von Königs Wusterhausen. Kandidaten aufgestellt haben auch die Grünen, die FDP und die Freien Wähler. Aber Ludwig Scheetz macht es zu einem Zweikampf zwischen ihm selbst und Andreas Kalbitz. Dem Sozialdemokraten Scheetz sind schon Leute begegnet, die ihm klar gesagt haben, dass sie seine Partei sonst nicht wählen würden, es diesmal aber aus taktischen Gründen tun wollen. Dabei gehe es nicht nur um die Erststimme, die über den Sieg im Wahlkreis entscheidet, sondern auch um die Zweitstimme. Denn die SPD hat nach den jüngsten Umfragen wieder bessere Aussichten, die AfD im Landesmaßstab auf Platz zwei zu verweisen. Das wäre symbolisch wichtig und hätte auch die praktische Auswirkung, dass die AfD nicht Anspruch darauf erheben kann, den Landtagspräsidenten zu stellen.

Bisher hat die SPD bei Wahlen in Brandenburg immer rund acht Prozent besser abgeschnitten als der Bundestrend. Das ist eine Faustregel, die Woidkes Team verinnerlicht hat. Wenn die Bundes-SPD, die zwischenzeitlich in den Umfragen bis auf 11,5 Prozent abgerutscht war, sich auf 15 Prozent hocharbeiten würde, so könnten die Genossen in die Landtagswahl am 1. September mit 24 Prozent der Stimmen gewinnen, lautet die Schlussfolgerung.

Die jüngste, am Mittwoch veröffentlichte Civey-Umfrage im Auftrag der Zeitung »Tagesspiegel« prognostizierte SPD und AfD bei der Landtagswahl jeweils exakt 20,3 Prozent, der CDU 17,9 Prozent, der Linkspartei 15,5 Prozent, den Grünen 14,8 Prozent und der FDP 4,9 Prozent. Dieses Ergebnis deckt sich ungefähr mit anderen Umfragen, die in den vergangenen Tagen publiziert worden sind. Zusammen würden SPD, LINKE und Grüne demnach auf 50,6 Prozent kommen. Diese Tendenz verstärkt sich ganz leicht. Insgesamt fällt allerdings auf, dass es zuletzt hauptsächlich zu Verschiebungen innerhalb des rot-rot-grünen Lagers gekommen ist. Die Grünen profitierten erst vom Absinken der SPD und nun läuft dieser Trend in die Gegenrichtung. Bei den übrigen Parteien bewegt sich nicht viel.

Eine alte Frau stellt ihr Fahrrad vor dem Lebensmittelgeschäft ab und geht hinein. Vorher bemerkt sie aber noch enttäuscht: »Es ist egal, wen man wählt - tut sich sowieso nichts.« Sie nennt ein Beispiel für ihre Verbitterung: »Die Gesundheit wurde total runtergekürzt.« Nun lässt sich gegen die herrschende Zwei-Klassen-Medizin auf Landesebene wenig unternehmen. Den Einwand lässt die Senioren aber nicht gelten, da sie ja auch schon bei Bundestagswahlen so oder so abgestimmt hat und nach ihrer Einschätzung nichts dabei herausgekommen ist. Wen sie gewählt hat, möchte sie allerdings nicht verraten. Sie winkt ab, dreht sich um und läuft schnurstracks in den Laden.

Um dieses Geschäft macht sich eine andere Rentnerin Sorgen. Sie hat gehört, dass der Laden raus soll. Dann hätte sie zum Einkaufen einen längeren Weg. Auch für andere Senioren wäre das sicherlich beschwerlich. Sie wendet sich mit diesem Problem an den Ministerpräsidenten Woidke, der inzwischen eingetroffen ist. Ludwig Scheetz steht daneben. Er hat noch nichts davon gehört, verspricht aber, sich zu erkundigen.

Woidke ist nicht von hier. Er ist in Naundorf bei Forst in der Lausitz aufgewachsen. In Forst wohnt er heute wieder. Aber er hat in Berlin studiert und ist oft in Königs Wusterhausen in den Schnellzug nach Cottbus umgestiegen. »Gibt es die Kneipe am Bahnhof noch«, erkundigt er sich und erfährt dabei, dass die Rentnerin Reichsbahnerin gewesen ist und ihr Berufsleben am Bahnhof Königs Wusterhausen verbracht hat. Kann gut sein, dass sie sich damals über den Weg gelaufen sind.

Es gibt einige Passanten, die den Ministerpräsidenten etwas fragen oder einfach mal nur mit ihm plaudern wollen. Der eine oder andere stellt sich regelrecht an. Einem, der sich über viele Nadelöhre auf den Straßen beschwert, kann er den verblüffenden Hinweis geben, dass Königs Wusterhausen vom Braunkohleausstieg in der weit entfernten Lausitz profitieren werde, da die Autobahn von Berlin in den Süden mit Finanzspritzen des Bundes für den Strukturwandel ausgebaut werden könne.

Nur einer möchte definitiv nicht verweilen. Ein Jugendlicher kurvt mit seinem Fahrrad zügig und schwungvoll an Woidke vorbei. Der Junge hat sich einen Lautsprecher umgehängt, aus dem heiße Beats dröhnen. Der Ministerpräsident dreht sich strahlend um, ruft »Hej« hinterher und schüttelt die Faust im Takt. Er mag Rockmusik, je härter, je besser.

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