Von Macht ergriffen

Eine kritische Bilanz der lateinamerikanischen Linksregierungen.

  • Peter Nowak
  • Lesedauer: 3 Min.

Nachdem Hugo Chavez 1998 seine erste Wahl gewonnen hatte, geriet der Neoliberalismus in Lateinamerika in die Defensive. Wie Dominosteine fiel eine rechte Regierung nach der anderen. In den beiden größten Ländern des Subkontinents wurden diese durch mehr oder minder sozialdemokratische Regierungen ersetzt, während in Venezuela, Ecuador oder Bolivien Kräfte an die Macht kamen, die sich noch weiter links verorteten.

Inzwischen aber läuft der Roll-Back. Argentinien und Brasilien sind gekippt - und nicht nur in Venezuela stehen jene Linksregierungen unter Druck. Sicher spielt dabei eine massive äußere Einflussnahme eine wichtige Rolle. Doch sollte das nicht den Blick auf die Praxis dieser Regierungen in den vergangenen anderthalb Dekaden verstellen. In Buchform haben nun Raúl Zibechi und Decio Machado eine solche Bilanz vorgelegt - und zwar aus einer Binnensicht: Beide haben den bolivarianischen Prozess in Venezuela lange kritisch-solidarisch begleitet. Machado war zudem zeitweilig Berater des ecuadorianischen Präsidenten Raffael Correa.

Dieser wird im Buch mit einem Satz zitiert, der den Problemkreis auf den Punkt bringt, dem sich die Analyse widmet: »Letztlich machen wir die Dinge besser ohne das Akkumulationsmodell anzutasten. Denn wir wollen nicht den Reichen schaden, sondern eine gerechtere Gesellschaft mit größerer Chancengleichheit.« Vielleicht ist es so, dass progressive Politik praktikabler ist, wenn sie nicht mit allen alten Eliten zugleich anlegt. Aber welche Fallstricke können sich daraus ergeben?

Am Beispiel Boliviens ziehen die Autoren ein ernüchterndes Fazit, das sie gewissermaßen für exemplarisch halten: »Der Beitrag der fortschrittlichen Regierung bestand genau darin«, den »Staat gestärkt und einen Zyklus von Kämpfen unterbrochen« zu haben. Anhand der dortigen Bergbaugenossenschaften zeichnen sie nach, wie aus einer Widerstandsbewegung eine neue Bourgeoisie werden konnte. Gegründet wurden sie von Beschäftigten aus dem Bergbausektor, der 1980 von den Neoliberalen zerschlagen wurde - auch, um einer kämpferischen Gewerkschaftsbewegung das Genick zu brechen. Viele erwerbslose Bergleute sahen in den Genossenschaften eine Alternative. Unter dem ehemaligen Coca-Bauern und Gewerkschafter Evo Morales werden dieselben gefördert und doch haben sich viele von ihnen inzwischen selbst zu kapitalistischen Gebilden entwickelt, die wiederum Beschäftigte zu schlechten Bedingungen anheuern.

Venezuela wird im Kapitel »Probleme sozialistischer Transformationsprozesse« abgehandelt, das auch Exkurse zur UdSSR und Kuba enthält. Auch hier problematisieren die Autoren Prozesse, die zur Ausbildung einer neuen Bourgeoisie geführt hätten. Kritisch verweisen sie auf die zentrale Rolle des Militärs. Doch hätte man sich eine eingehendere Analyse der Basisbewegungen im bolivarianischen System gewünscht. Die Autoren erwähnen nur kurz die Arbeiten Dario Azzellinis, der deren Bedeutung häufig unterstrichen hat. Und der - zumindest vorläufig - gescheiterte Versuch des Regime-Change dieses Jahres zeigte, dass die Verankerung der chavistischen Regierung nach wie vor nicht zu unterschätzen ist.

Bezüglich Brasiliens zeichnet das Buch überzeugend nach, dass die Korruptionsprozesse, die den Sozialdemokraten Lula da Silva ins Gefängnis brachten, Teil eines Fraktionskampfs innerhalb der dortigen Bourgeoisie sind. Unterbelichtet bleibt die Rolle dieses Korruptionsdiskurses im Faschisierungsprozess, der mit der Wahl des ultrarechten Präsidenten Jair Bolsonaro seinen Höhepunkt, nicht aber seinen Abschluss gefunden hat.

Als Fazit bleibt die alte Weisheit, dass wer die Macht ergreift, stets auch von dieser ergriffen werden kann. Als linke Alternative zu diesen neuen staatssozialistischen Versuchen werden Mexikos Zapatisten gestreift, an deren Reichweite man durchaus Kritik haben kann - doch verdienen die teils streitbaren Thesen des Buches eine interessierte Auseinandersetzung.

Decio Machado/Raúl Zibechi: Die Macht ergreifen, um die Welt zu ändern? Eine Bilanz der lateinamerikanischen Linksregierungen. Übersetzung von Raul Zelik. Bertz + Fischer, 220 S., brosch., 12 €. Foto: mauritius images/Alamy/riccardo Mancioli

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