Vertriebene auf eigenem Land

Seit fast drei Jahren gilt ein fragiler Frieden in Kolumbien - in vielen Dörfern hat sich wenig geändert

  • Marie Frank, Clavellino
  • Lesedauer: 8 Min.

Die halb verfallenen Holzhütten mit ihren Wellblechdächern am schlammigen Ufer des Flusses Truando mitten im kolumbianischen Regenwald bieten kaum Schutz vor der drückenden Hitze. Auch die Moskitos, die jetzt in der Regenzeit in Scharen unterwegs sind, vermögen sie nicht abzuhalten. Türen gibt es ebenso wenig wie Fensterscheiben. Wozu auch, zu holen gibt es hier im Chocó, der ärmsten Region Kolumbiens, ohnehin nichts: Die karge Einrichtung der Hütten macht vielmehr den Eindruck, als wären ihre Bewohner*innen jederzeit bereit, schnell von hier zu fliehen, wie so oft in ihrem Leben.

Die Gemeinde Clavellino im Nordwesten Kolumbiens nahe des Pazifik ist eine Art Auffangbecken für vertriebene Afrokolumbianer*innen. Während die Frauen unter einer Plastikplane als Sonnenschutz am offenen Feuer das Essen zubereiten oder im Fluss die Wäsche waschen, arbeiten die Männer auf den wenigen Feldern, die sie direkt hinter den Hütten dem Dschungel abgetrotzt haben. Das Wenige, das hier angebaut wird, reicht jedoch kaum zum Leben, auch weil die Früchte der Kochbananen- und Maisfelder oft Überschwemmungen zum Opfer fallen. Weiter weg vom Fluss ist der Anbau jedoch nicht möglich. Zu groß ist die Gefahr, dass immer noch Landminen vergraben sind. Lebensmittel oder Medikamente müssen sich die Menschen daher in der mehrere Stunden entfernten und nur mit dem Boot zu erreichenden Provinzstadt Riosucio besorgen.

Fast 30 Familien leben in Clavellino. Die meisten der rund 130 Einwohner*innen sind kleine Kinder. Viele von ihnen wurden bereits mehrere Male in ihrem Leben vertrieben. Luis Romero1 ist froh, überhaupt irgendwo bleiben zu können. Der 34-jährige Afrokolumbianer sitzt auf einem Plastikstuhl am Rande des Dorfes. Sein Gesicht spiegelt Entschlossenheit und einen unbedingten Überlebenswillen, wenn er von seinen Vertreibungen berichtet. 1996, da war Romero elf Jahre alt, mussten er und seine Familie das erste Mal fliehen. »Wir mussten alles zurücklassen«, erzählt er. Mit vier Geschwistern und seinen Eltern schlug er sich durch den Regenwald bis zu einem kleinen Dorf durch.

Doch ein Jahr später wurden sie erneut vertrieben. Schuld war die »Operation Genesis«. Die Armee, unterstützt von Paramilitärs, ermordete in ihrem rücksichtslosen Kampf gegen die Guerilla mehr als 80 Menschen in dem dünn besiedelten und überwiegend von Afrokolumbianer*innen bewohnten Departamento Chocó. Über 4000 Menschen wurden vertrieben. »Das Militär kam, ist mit Flugzeugen über die Flüsse geflogen und hat Bomben abgeworfen«, erinnert sich Romero. Ganze Dorfgemeinschaften seien damals gemeinsam geflohen, auf Booten, zu Fuß, ganz egal, Hauptsache schnell weg. »Wir sind nur gerannt.«

Der kleine Romero floh, nur mit Badehose und Badelatschen bekleidet, tagelang durch den Regenwald. »Noch heute erinnere ich mich daran, als wäre es gestern gewesen. Ich erinnere mich an jeden einzelnen Stein, der sich durch meine dünnen Sohlen gebohrt hat«, sagt er und ein trauriges Lächeln erscheint auf seinem Gesicht. Irgendwann erreichten sie die Kirche von Riosucio, in der sie Zuflucht fanden. Andere hatten weniger Glück. »Einige Dorfbewohner wollten nicht fliehen und haben gesagt: ›Ich gehe hier nicht weg, ich lasse mich nicht vertreiben.‹ Sie wurden alle umgebracht.«

Gabriela Cortez1 war sieben Jahre alt, als sie das erste Mal aus ihrem Dorf vertrieben wurde. Ihre braunen Haare sind zu einem strengen Zopf geflochten, ihre Augen starr auf ihre rot lackierten Fingernägel gerichtet. Auch sie erinnert sich genau: »Ich musste meine kleinen Geschwister tragen. Meine Tante war hochschwanger. Tagelang sind wir durch den Dschungel geirrt.« Wer zu schwach war, wurde zurückgelassen. So auch ihre Tante, die noch auf der Flucht ihr Kind entband. Ein paar Tage später erreichten jedoch auch sie und ihr Neugeborenes das Flüchtlingslager am Rande der nächstgelegenen Stadt. Ein Jahr lang warteten sie dort unter elenden Bedingungen darauf, endlich wieder in ihr Dorf zurückkehren zu können.

Doch als es so weit war, war nichts mehr wie zuvor. Die Dörfer von Luis Romero und Gabriela Cortez gab es nicht mehr: Fast alle Häuser waren zerstört. Paramilitärs hatten mittlerweile die Kontrolle und stigmatisierten und bedrohten die Bewohner*innen als Mitglieder der Guerilla. Tatsächlich galt der Chocó als klassisches Rückzugsgebiet der linken Guerillabewegung FARC, die sich mit den kolumbianischen Streitkräften, den rechten paramilitärischen Gruppen und den Drogenkartellen bewaffnete Auseinandersetzungen lieferte, denen häufig auch Zivilist*innen zum Opfer fielen. Im Gegensatz zu den Paramilitärs galten sie bei der Landbevölkerung jedoch als das kleinere Übel. Kein Wunder: Laut Kolumbiens Nationalem Zentrum für das historische Gedächtnis gehen 80 Prozent aller Straftaten im bewaffneten Konflikt auf das Konto der Paramilitärs. »Ich will die FARC nicht verteidigen, aber als wir erfahren haben, dass sie die Region wieder unter ihrer Kontrolle haben, haben wir uns gefreut. Weil wir wussten, dass wir wieder in unsere Dörfer zurückkehren können«, sagt Romero rückblickend.

Die Freude währte nicht lange. Die folgenden Jahre waren geprägt von weiteren Vertreibungen, Kämpfen zwischen FARC und Paramilitärs und Massakern an der Bevölkerung, erzählt Romero. »Meistens ging es darum, dass die Paras versucht haben, der FARC die Kontrolle über die Transportrouten am Pazifik abzunehmen. Dabei ging es immer um Drogenhandel«, weiß der 34-Jährige. Wer konnte, floh nach Riosucio. Wer es sich leisten konnte, noch weiter weg, nach Medellín oder Bogotá.

Im Dezember 2016 kommt es schließlich zum Friedensvertrag der Regierung mit der FARC. Doch noch immer gibt es keinen Frieden im Chocó. Nirgendwo im Land gibt es mehr Vertreibungen als hier: Seit Januar 2018 zählt die kolumbianische Ombudsstelle für Menschenrechte 57 Massenvertreibungen mit 21 000 betroffenen Personen allein in der Pazifikregion. Aktuell sind dort 17 neue kriminelle Gruppen aktiv. Meist geht es um Drogen- oder Menschenhandel in die USA über die nahe gelegene Grenze zu Panama oder um die illegale Inbesitznahme von Land für multinationale Unternehmen, die hier Bodenschätze wie Erdöl oder Gold fördern. Die entstehenden Umweltzerstörungen rauben der Landbevölkerung ihre ohnehin spärlichen Lebensgrundlagen.

Das Land ist, gerade für die indigenen Gemeinden, von besonderer kultureller Bedeutung. Den Afrokolumbianer*innen und den Indigenen in ihren Autonomiegebieten stehen laut Verfassung weitgehende Rechte über ihr Territorium zu. Doch viele Unternehmen halten sich nicht daran. Auch auf ihrem Land bauten Firmen Holz ab, obwohl die Gemeinde das nie genehmigt habe, klagt der Presidente von Clavellino. Tun können sie dagegen wenig. Im Gegensatz zu den Indigenen, die über ein eigenes Justizsystem verfügen, haben sie keine eigenen Wachen, und der Staat ist nicht präsent. »Hier hört man auf den, der die Waffe in der Hand hat«, sagt Romero.

Siebenmal wurden Romero und seine Familie insgesamt vertrieben, zuletzt vor zwei Jahren. Da lieferten sich die Paramilitärs bewaffnete Auseinandersetzungen mit der ELN. Dabei hatten die Bewohner*innen gehofft, nach dem Friedensvertrag endlich ein normales Leben führen zu können. »Das war besonders schlimm, weil die Leute gerade angefangen hatten, Kakao anzubauen - in der Hoffnung, damit endlich einen gesicherten Lebensunterhalt zu haben«, sagt Romero.

Die Folgen des andauernden Konflikts sind fatal: Viele trauen sich aus Angst vor weiteren Vertreibungen nicht, in das ihnen geraubte Land zurückzukehren. Als ungelernte Landarbeiter*innen verdingen sie sich in den Städten als Tagelöhner*innen und nehmen jede noch so schlecht bezahlte Arbeit an. Die, die die Rückkehr wagen, finden aufgrund der vielen Landminen nie richtig in ihr bäuerliches Leben zurück. Psychische Traumata und chronische Mangelernährung sind an der Tagesordnung.

Die vom Gesetz vorgesehenen Entschädigungen erhält kaum jemand. Die Menschen in Clavellino und den umgehenden Gemeinden sind völlig abhängig von Hilfsorganisationen und Kirchen, von denen sie ab und zu Reis, Bohnen und Öl bekommen.

Einen Arzt gibt es in Clavellino ebenso wenig wie eine Schule. Die Wenigsten leben hier daher dauerhaft. So wie Luis Romero, der eigentlich mit seiner Familie in Riosucio wohnt und nur zu den Ernten in das Dorf zurückkehrt. Jetzt sind gerade die Kochbananen reif. Seine Frau und sein Kind würden gerne nach Clavellino kommen, aber solange es hier keine Schule gibt, ist das nicht möglich. Laut Regierung gibt es in Clavellino zu wenige Kinder für eine Schule, und ohne eine Schule können die Familien nicht zurückkehren. Ein Teufelskreis.

Gabriela Cortez zeigt auf die vielen Boote am Ufer. »Es ist ein ständiges Kommen und Gehen«, sagt sie. »Unsere Familien leben auseinandergerissen.« Auch sie hat ein Kind in Riosucio, das abwechselnd von ihr und ihrer Mutter betreut wird. Wegen der vielen Vertreibungen hat Cortez im Gegensatz zu ihrer Tochter nie die Schule besucht. Doch das holt die 28-Jährige jetzt nach, sie steht kurz vor ihrem Grundschulabschluss. Eines Tages will sie Lehrerin werden, erzählt sie, am liebsten hier in Clavellino. »Was will ich in der Stadt? Ich kenne nur das Landleben. Ich bin hier geboren und würde es gegen nichts tauschen. Nur hier fühle ich mich frei.«

Freiheit ist im Chocó allerdings alles andere als selbstverständlich. »Die größte Sorge ist, dass die Paramilitärs die Dörfer infiltrieren«, sagt Romero. Offen zu sprechen trauen sich daher nur die Wenigsten. »Wer zu viel redet, liegt am nächsten Tag tot im Fluss.« In den indigenen Gemeinden will niemand über die Vertreibungen und die bewaffneten Konflikte in der Gegend reden, zu groß ist die Angst. Nicht ohne Grund: Seit dem offiziellen »Frieden« wurden im Chocó Dutzende politische Aktivist*innen ermordet. Wie lebt man mit dieser ständigen Bedrohung? Romero zuckt mit den Schultern und schaut betreten auf seine Gummistiefel. »Man lernt, sich den Bedingungen anzupassen. Wenn man die Träume, die man hat, nicht verwirklichen kann, muss man eben neue entwickeln.«

Träume hat der junge Afrokolumbianer jede Menge. Am liebsten will er die ganze Welt bereisen, Mexiko etwa oder Malaysia. Und natürlich Deutschland, sagt er und zum ersten Mal an diesem Tag leuchten seine Augen, während er lacht.

1 Name von der Redaktion geändert, um die Betroffenen nicht zu gefährden.

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