nd-aktuell.de / 12.09.2019 / Berlin / Seite 12

Der Maßstab muss Aufklärung sein

Betroffene rechten Terrors fordern vom Berliner Parlament einen Untersuchungsausschuss

Claudia Krieg

»Was glaubt ihr, wie das ist, wenn man bei seinen Eltern schläft und denkt, sie wären fast gestorben, nur weil ich der Mensch bin, der ich bin?«, fragt Ferat Kocak am Dienstagabend bei einer Podiumsdiskussion im Kreuzberger Veranstaltungszentrum SO36 das Publikum. 120 Menschen sind der Einladung zu der Debatte unter dem Motto »Was tun, wenn’s brennt?« gefolgt.

Kocak ist Neuköllner Linken-Politiker und Mitinitiator einer Petition, die aktuell einen Untersuchungsausschuss zu rechtem Terror fordert, der vom Abgeordnetenhaus eingesetzt werden müsste. Im Januar 2018 wurde auf Kocaks Auto ein Brandanschlag verübt, bei dem nur ein glücklicher Zufall den Tod von ihm und seinen Eltern verhinderte. Hauptverdächtige des Anschlags sind zwei polizeibekannte Neonazis, die Kocak über ein Jahr lang ausspioniert haben sollen und dabei wohl vom Verfassungsschutz observiert wurden. Trotz vieler Indizien ihrer (Mit-)Täterschaft an dem Anschlag sind die Verdächtigen bis heute auf freiem Fuß. Kocak sagt, seine Angst habe sich verschoben. Er erlebe sich selbst in einem »Mißtrauensgebilde«. Ermittelnde Beamte haben ihn nicht über die Lebensgefahr, in der er er sich befunden habe, in Kenntnis gesetzt.

»Die polizeilichen Ermittlungsakten zu all den Brandanschlägen, zu Schmierereien, zu Morddrohungen und zu rechter Gewalt in Neukölln haben eines gemeinsam: Sie sind sehr dünn«, sagt der Berliner Rechtsanwalt Sven Richwin, der neben Kocak auf dem Podium sitzt. »Man findet in den Akten in der Regel eine Tatortbeschreibung, die häufig den sichtbar politischen Inhalt ignoriert, dann die Informationen, die meist Betroffene oder zivilgesellschaftliche Initiativen liefern - und dann die Einstellung der Ermittlungen«, so der Anwalt. Von 2010 bis 2017, so Richwin, sei es nicht gelungen, einen einzigen Täter zu fassen, obwohl diese, wie man am Beispiel Ferat Kocak habe sehen können, »kein bisschen konspirativ vorgehen: Die telefonieren mit ihren eigenen Telefonen und fahren mit ihren eigenen Autos spätere Tatorte ab«.

Kocaks Fall ist einer von vielen. Der Terror dauert seit zwölf Jahren an. Seitdem leben Menschen im Bezirk Neukölln in Angst vor rechten Anschlägen, die ihre Leben und das ihrer Angehörigen und Freund*innen bedrohen. Sie betreiben Buchläden, Cafés, engagieren sich für einen sozialen und vielfältigen Stadtteil, haben migrantische Geschichte. Sie sind aktiv in antifaschistischen Initiativen oder in Jugendbildungseinrichtungen wie dem Anton-Schmaus-Haus der Falken. Sven Richwin vertritt mehr als zwei Dutzend von ihnen. Die Anschläge, sagt er, folgten dem Muster einer abzuarbeitenden Liste, wie sie auch im Internet veröffentlicht worden sei: von öffentlichen Berliner Orten wie Cafés und Jugendeinrichtungen hin zu semibekannten Personen in Neukölln, bis schließlich zu privaten Räumen der Angegriffenen.

Er erlebe, so der Anwalt, bei seinen Mandant*innen nach den vielen Jahren eine »Demoralisierung des Vertrauens« gegenüber den Sicherheitsbehörden. »Wenn die Hauptkunst der polizeilichen Ermittlungsarbeit darin besteht, zu verhindern, dass ein Anschlag überhaupt als politisch motiviert eingestuft wird«, so Richwin, sei dies auch nicht verwunderlich. Er selbst habe erlebt, wie Spuren nicht vernünftig gesichert werden: »Man weiß dann schon, da wird nichts bei rauskommen.« Dies sei nur zu Zeiten anders, in denen seitens der Politik erheblicher Druck auf die zuständigen Sicherheitsbehörden ausgeübt werde, betont der Anwalt. Dann fühlten sich diese zumindest genötigt »kleine Häppchen« auszugeben, auch wenn dies zuweilen nur noch mehr Unsicherheit bei Betroffenen schüren würde: »Die Betroffenen werden beispielsweise darüber informiert, dass sie auf einer rechten Liste stehen, aber nicht darüber, was genau Nazis über sie wissen«, so der Anwalt. Zuletzt habe Innensenator Andreas Geisel (SPD) immerhin die Linie ausgegeben, Verdächtige nicht mehr nur zu beobachten, sondern festzunehmen. Gleichzeitig droht gerade die Einstellung der Ermittlungen im Fall des Mordes an dem jungen Neuköllner Burak Bektas, der im Jahr 2012 auf offener Straße erschossen wurde.

»Es ist beschämend, dass der Berliner Senat noch keinen Untersuchungsausschuss eingerichtet hat«, sagt Katharina König-Preuss König, die ebenfalls auf dem Podium sitzt. Vieles, sagt sie, erinnere sie an den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU). König-Preuss sitzt seit zwei Legislaturperioden im Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss. 12 000 Akten, haben die LINKEN-Politikerin und zehn weitere Abgeordnete des Thüringer Landtags allein während der ersten Untersuchungsperiode gesichtet, sagt König-Preuss. Ein Ausschuss könne viel bringen, aber müsse sich auf ganz Berlin und eine längere Zeitspanne beziehen. So käme man auch an Strukturermittlungsakten heran. Das wichtigste aber, so König-Preuss, seien engagierte Abgeordnete, die ihre Arbeit ernst nehmen. Die anwesende LINKEN-Abgeordnete Anne Helm bietet daraufhin ein Strategietreffen für Betroffene und Verfechter*innen des Untersuchungsausschusses an.

Eine Entwicklung, so Sven Richwin, bereite ihm besonders Sorgen. Viele der Neonazis, die noch vor fünf bis zehn Jahren als treibende Kräfte der Neonazi-Szene aktiv waren, seien inzwischen von der Bildfläche verschwunden. »Ich gehe nicht davon aus, dass sie sich aufgrund des Wechsels ihrer Weltsicht aus der öffentlichen Szene zurückgezogen haben«, schätzt der erfahrene Anwalt ein.