Ausreise nach Ambivalencia

Zum Tod des Schriftstellers Günter Kunert

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Er hatte den Ort gefunden, wo es sich leben lässt. Wo alles möglich ist. Ein Ort tief in uns. Sicherheitszone. Zuflucht. Aber auch Zerrfeld. »Ambivalencia« nannte der Dichter Günter Kunert sein Arkadien. Ambivalenz im Denken als »Schutz vorm Überwältigtwerden durch die Ungeheuerlichkeit des unerklärlichen Daseins«. Kunert war ein deutscher Bruder des wunderbaren Zynikers E. M. Cioran. Die Tonlage: verlässlich scharf, verlässlich traurig, verlässlich aus Ironie gespeist. Im Aufbauwerk der Ideologien sah er die Zukunft der Archäologen: Sie werden die Scherben ordnen. Und aufatmen: keine Spur mehr von uns.

»Verhänge die Fenster/ Vernagle die Tür /Warte nur balde dringet/ durch Ritzen und Spalten/ die Terra cognita mächtig ins Haus.« So endet der Lyrikband »Nachtvorstellung«. Warte nur balde. Goethes Verse, die menschliches Leben in den glücklichen Einklang mit der Natur stellen und alles Werden und Vergehen einer weltrettenden Beruhigung zuordnen - bei Kunert bleiben Sinngebung und Vernunft, diese letzten Bastionen verweltlichten Glaubens, nur ein lebenslang bemühter Irrtum.

Vergeblichkeit heißt das Schlüsselwort zum umfangreichen Werk dieses bedeutenden Lyrikers (»Abtötungsverfahren«, »Fremd daheim«, »Abschied von Utopia«, »Ohne Botschaft«), der auch ein starker Skurrilmaler, ein polemischer Essayist sowie Hörspiel- und Drehbuchautor war (u.a. »Fetzers Flucht«, »Beethoven«). Ein feinsinniger Beobachter, der in Reisebeschreibungen und Tagebüchern (über USA- und Englandaufenthalte) hinter sinnlich Wahrgenommenem eine frappierende Tiefenschichtung aufspürte. Grandios seine Kurzprosa, die in alltäglichen Details kafkaeske Strukturen entdeckte, jeden Schreibanlass ins Surreale treiben konnte, ins böse Gleichnis.

In seiner Dankesrede für den Hans-Sahl-Preis, vor vielen Jahren, ging Kunert jener biografisch begründeten Neugier nach, die auch ihn, nach Kriegsende, ganz selbstverständlich dazu trieb, an der Großbaustelle DDR mitzuwirken. Die Faszination, die der praktizierte Marxismus auf viele Künstler und Intellektuelle ausgeübt habe, sei außer im Antifaschismus auch in dem merkwürdigen Umstand zu suchen, dass dieser Gesellschaftsplan »eigentlich selber ein Kunstprodukt gewesen ist und darum der künstlerischen Tätigkeit nahe und verwandt«. Was auch ihn begeisterte, war die Struktur einer Theorie, die »alles Unwägbare ausschied, alles Fragwürdige, Ungewisse, Relative, Unerwartete und Zufällige«.

Allmählich aber sah sich Kunert enttäuscht von einem Geschichtsverständnis, dessen utopischer Entwurf ins real existierende Leere lief. »Das kleine Aber« (so heißt ein Gedichtband) gegen die dröge Avantgarde zu behaupten, geriet ihm zur Lebensprüfung. Wachsende Anfeindungen und Verleumdungen. Ulbricht hatte die Premiere von Egon Günthers DEFA-Film »Abschied«, der auf dem gleichnamigen Roman von Johannes R. Becher beruht, verlassen. In seinen Erinnerungen »Erwachsenenspiele« schrieb Drehbuchautor Kunert: »Teils ist es erstaunlich, teils befriedigend für uns, festzustellen, wie nahtlos sich diese Regierung und ihr Militär mit der Herrschaft des Wilhelminischen Reiches identifiziert.«

Die Ausreise in den Westen war nur der äußere Ausdruck jenes längst vollzogenen Exils in Ambivalencia. Er setzte das Schnurren seiner Katzen gegen das Fauchen propagandistischer Papiertiger, blieb spitz gegen Spitzel. Aufschlussreich ist es, noch einmal in seinen Texten über Kleist zu lesen. Dieser Dichter sei unleugbar ein Außenseiter gewesen, »doch mit einem starken Verlangen nach Teilhabe«. Prototyp des Dichters, dem alles, außer seinem Werk, misslingt. Gutwilligkeit und Kompromissbereitschaft stehen in unlösbarem Widerspruch zu den realen Chancen, aufgenommen zu werden ins größere Ganze. Eine jede Unternehmung, die doch in die Gemeinschaft hineinführen sollte, habe diesem Menschen nur eröffnet, dass gesellschaftliche Ordnung, welcher Art auch immer, ein »lebendiges Monument der Tyrannei« ist.

Kunert spricht von der »Wirklichkeitsverkennung« des Poeten: Berufung macht unfähig für alles Berufsrevolutionäre. »Auch wir, auch ich, steckten in dieser Zerreißprobe, einerseits der Wahrheit oder was wir dafür hielten, mit unserer Literatur zu dienen, andererseits jedoch dem Verlangen nach Kollektivität, nach einer Menschengemeinschaft, in Anführungsstrichen, zu folgen. Darin liegt wohl die Gefährdung des Künstlers.« Kunert über Kleist, eines seiner Hörspiele nannte er »Ein anderer K.«

Immer ist er ein Tagebüchler der großen Art gewesen: »Die Botschaft des Hotelzimmers an den Gast«, »Tröstliche Katastrophen«, »Die Geburt der Sprichwörter«. Augenblicke, Zwischenrufe, Stillleben. Tages- und Jahreszeiten, Träume, Reisen, das Alter, die Zeitläufe, das Gemüt, der Eros - Kunert streifte »mit lustvoller Absichtslosigkeit« durch das, was ihn bewegte, mit dem Wunsch, einem Montaigne gleich »die Zeit zu begleiten«. Er schrieb vom Leben im schleswig-holsteinischen Kaisborstel - und von der Welt. »Sie wollen Schriftsteller werden? Bringen Sie sich in eine aussichtslose Lage, und Sie werden merken, wie Ihnen plötzlich Kreativität zuwächst.« Skeptizismus hält schön sterblich.

In bestimmten Punkten blieb er mit Sarkasmus und Klugheit ein Festgefügter. Etwa in seinem Blick auf »eine spezifische deutsche Krankheit: das Nichtgewussthaben«. Oder in seinem Urteil übers menschliche Wesen: »Nur ein minimaler Teil unseres Ichs wagt sich ans Licht, das übrige verharrt furchtsam im Dunkel des schlechten Gewissens, der Scham, der Feigheit.« Im Grunde seien wir unglückliche Geschöpfe, »Irrläufer der Evolution« - in einer Schizophrenie existierend, »deren Verdrängung uns einen ganzen Planeten kosten wird«. Er stand auf einer einsamen Warte, die nicht zu vergesellschaften ist, obgleich erst von dieser Warte aus alles Gesellschaftliche sichtbar wird.

Dieser Autor schrieb Angst in Souveränität um. Neue Angst. Die nicht mehr darin besteht, aus der Gesellschaft zu fallen, sondern ihr nicht mehr entgehen zu können. Angst, die nicht mehr darin besteht, ins Abseits zu geraten, sondern es nirgends mehr zu finden. Nun ist Günter Kunert im Alter von 90 Jahren gestorben.

Bereits zu Lebzeiten hat Kunert für sich eine Grabstätte auf dem jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee vorgesehen. Dort liegt auch seine erste Frau Marianne begraben. Die letzten Gedichte des Schriftstellers sind soeben unter dem Titel »Zu Gast im Labyrinth« erschienen. In einigen Monaten sollen bisher nicht publizierte Erzählungen Kunerts folgen. Der Arbeitstitel des Erzählungsbandes, »Vom Friedhof nichts Neues«, wurde noch vor dem Tod des Dichters gewählt.

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