Gesundheit geht vor

Roberto J. De Lapuente findet, dass es eine gute Entwicklung ist, wenn die Krankheitstage von Angestellten steigen

  • Roberto J. De Lapuente
  • Lesedauer: 3 Min.

Mal wieder eine Hiobsbotschaft von der Krankenkasse: 19,9 Tage waren im vergangenen Jahr AOK-Versicherte arbeitsunfähig und blieben zu Hause. Das waren 0,5 Tage mehr als noch 2017. Besonders neu ist diese Tendenz nicht. Seit Jahren liest man davon, dass Arbeitnehmer sich verstärkt krankschreiben lassen. Jahr für Jahr berichten verschiedene Krankenkassen und Dachverbände über diese Entwicklung, schlüsseln nach Beruf und Geschlecht auf und informieren über die Kosten. Über den volkswirtschaftlichen Schaden, um es in Ökonomisch zu sagen. Und über die Belastung für die Wirtschaft.

Der Ton, den diese Krankenstandreports dann in der journalistisch-ökonomischen Auswertung erzeugen, ist natürlich angebotsorientiert. Viele Krankheitstage seien schlecht. Sie würden den Standort belasten und uns allen zu viel Kosten auferlegen.

Von 2000 bis 2010 konnte man einen gegenteiligen Trend beobachten. Der Krankenstand schrumpfte in dieser Zeit fast jährlich. Das hatte ziemlich sicher mit der neuen Agenda zu tun, mit den Hartz IV-Gesetzen und wie man das Thema medial auflud. Arbeitsminister sprachen von »Parasiten« und als Experten vorgestellte Lobbyisten flößten schlechte Gewissen ein. Wer wollte da schon durch Krankheit auffallen? Lieber krank zum Dienst als gar keine Arbeit, hieß die Parole.

Für die ökonomischen Trendsetter war der Krankenstand damals allerdings immer noch zu hoch. Krankheit galt für sie als ein unnormaler Zustand. Insbesondere deswegen, weil die Arbeitgeber in den ersten sechs Wochen einer Erkrankung weiterhin den Lohn zu entrichten hatten. Deshalb lag immer wieder mal das Thema Lohnfortzahlung auf dem Tapet. Auch damit setzte man Erkrankte unter Druck. Sie nahmen Urlaub zur Genesung, leisteten Überstunden ab, um sich zu kurieren, und verlegten OP-Termine in die freie Zeit nach der Befristung. Prophylaxe war alles: Also dopte man sich fit, unterdrückte Symptome und verschleppte manche Erkrankung in eine günstigere Lebensphase.

Dass jetzt der Krankenstand wieder anwächst, stellt gewissermaßen eine Normalisierung eines Zustandes dar, der ganz und gar nicht normal war. In den Jahren stagnierender Krankentage, waren die Leute ja nicht plötzlich von chronischer Gesundheit befallen. Krank waren, sind und werden die Menschen immer sein. Krankgeschrieben hingegen sind sie entweder – oder sie sind es nicht.

Dieses Durchhalten war als Haltung in etwa so krank, wie die Mitarbeiter, die eigentlich ins Bett gehört hätten. Trotzdem jammerte man über den kranken Mann Europas, der Deutschland auch deswegen sei, weil er zu rücksichtsvoll mit seinen kranken Produktivkräften umgehe. Die allgemeine Volksgesundheit mittels unterdrückter Krankheiten war jedoch nicht aufrechtzuerhalten. Ganz einfach, weil das keine gesunde Einstellung ist. Die Arbeitnehmer sind heute auch nicht wirklich kränker als damals – sie sind nur häufiger krankgeschrieben.
Endlich hat es da wohl Klick gemacht. Man kann sich auch nicht ewig anbiedern bei seinem Chef. Gesundheit geht vor. Wenn Arbeitnehmer das einsehen, dann ist das zunächst mal gar keine schlechte Nachricht. Ein höherer Krankenstand zeugt von einem höheren Bewusstsein in dieser Frage. Auch ökonomisch ist das eine gute Entwicklung. Denn Mitarbeiter, die sich auskurieren, die kommen letztlich dem eigenen Betrieb wie der Solidargemeinschaft billiger. Das minimiert längere Ausfallzeiten aufgrund verschleppter Krankheiten und Folgekosten.

Regelmäßig legen die Krankenkassen freilich auch dar, dass die psychischen Erkrankungen, die Burn-outs in der Statistik, zugenommen haben. Das ist natürlich einerseits tragisch, es braucht unbedingt Neuregelungen im Arbeitsrecht, die zum Beispiel die Allerreichbarkeit unterbinden. Dennoch ist es aber ein gutes Zeichen, wenn sich Arbeitnehmer durch eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aus der Stress verursachenden Situation ziehen.
Statistisch sind wir jetzt kränker als noch vor Jahren. Aber der nur vermeintlich gesunde Rhythmus von damals, war krank, einfach nur krank.

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