Nicht einmal die Hälfte der Beschäftigten erhält Tariflöhne

Die Arbeitslosenquote sinkt weiter, doch auch mit einem Job stecken viele Brandenburger in der Armutsfalle

Die Zahlen klingen gut. Im September lag die Erwerbslosenquote in Berlin bei 7,8 Prozent und damit 0,1 Prozentpunkte unter dem Vorjahreswert. Voraussichtlich werde sich die positive Entwicklung 2020 fortsetzen, weiß Sozialsenatorin Elke Breitenbach (LINKE). Denn das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung prognostiziere für das kommenden Jahr ein Beschäftigungswachstum von 1,9 Prozent. Die Zahl der Arbeitslosen könnte dann um 0,5 Prozent sinken.

Den Blick nur darauf zu lenken, reiche jedoch nicht aus. »Sehr viele Menschen können vom Lohn ihrer Arbeit nicht leben«, sagt Breitenbach. Im vergangenen Jahr waren 171 000 erwerbstätige Berliner armutsgefährdet. Die Senatorin forderte Maßnahmen des Bundes, unter anderem eine Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns.

In Brandenburg ist die Arbeitslosenquote binnen Jahresfrist um 0,4 Prozentpunkte auf nur noch 5,5 Prozent gesunken. Das ist der niedrigste Wert seit 1991. »Wir sind auf dem richtigen Weg«, denkt Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD). Sozialministerin Susanna Karawanskij erkennt an, dass sich der hiesige Arbeitsmarkt in den vergangenen fünf Jahren »sehr gut« entwickelt habe. Besonders erfreulich sei, dass es immer weniger Langzeitarbeitslose gebe und auch weniger Ältere, Alleinerziehende und Behinderte, die erwerbslos gemeldet sind, sagt sie. Doch Karawanskij lenkt die Aufmerksamkeit auf die »Verdienstmöglichkeiten«. Sie bemängelt mit Blick auf den Tag der deutschen Einheit am 3. Oktober, dass die Löhne und die Arbeitszeiten auch 30 Jahre nach der Wende noch nicht vollständig angeglichen sind. In der Regel verdienen Ostdeutsche nicht nur weniger als ihre Kollegen im Westen. Sie müssen auch länger arbeiten. »Die Ost-West-Angleichung der Löhne muss endlich schnell erfolgen«, verlangt Karawanskij.

Betroffen von niedrigen Löhnen sind nicht nur die Beschäftigten selbst, sondern auch der Staat und damit dann alle Bürger, die auf ordentliche Straßen und Schulen angewiesen sind und darauf, dass Busse und Bahnen verkehren. Dem Land Brandenburg entgeht durch Tarifflucht und Lohndumping jährlich eine Milliarde Euro an Einkommenssteuer, dem Land Berlin entgehen so 658 Millionen Euro. Diese Zahlen nennt am Montag der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB). Er hat sie nach eigenen Angaben aus der letzten Verdienststrukturerhebung des statistischen Bundesamtes errechnet.

»Mit geringerem Einkommen haben nicht nur die Beschäftigten weniger Netto in der Tasche, sie bedeuten auch weniger Geld für die Sozialversicherungen und weniger Steuereinnahmen«, warnt DGB-Landesbezirkschef Christian Hoßbach. Es handele sich keineswegs um Peanuts. Das Geld werde beispielsweise für Investitionen in Infrastruktur und Bildung gebraucht. Den Verlust für die Sozialversicherung bezifferte er für Brandenburg auf 1,6 Milliarden Euro im Jahr 2018 und für Berlin auf 1,1 Milliarden Euro. In Brandenburg haben im vergangenen Jahr nur 49 Prozent der Beschäftigten Tariflöhne gezahlt bekommen, in Berlin waren es sogar nur 46 Prozent. Der DGB fordert, dass öffentliche Aufträge und Fördergelder nur noch an Firmen vergeben werden, die sich an die Tarifverträge halten.

»Brandenburg braucht mehr Tarifbindung«, findet auch Linksfraktionschef Sebastian Walter. Er verlangt, eine Tariftreueregelung in das brandenburgische Vergabegesetz aufzunehmen. SPD, CDU und Grüne haben sich vor Beginn ihrer laufenden Koalitionsverhandlungen darauf verständigt, dass eine Tariftreueklausel geprüft werden soll.

Dagegen meinen die Unternehmensverbände Berlin-Brandenburg (UVB), der DGB zäume das Pferd von hinten auf. »Firmen brauchen attraktive Tarifverträge, die ihnen Flexibilität und Luft zum Atmen lassen. Dann können die Unternehmen auch dazu beitragen, den Staat und die Sozialversicherungen zu finanzieren«, argumentiert UVB-Hauptgeschäftsführer Christian Amsinck. Die Tarifbindung mit Hilfe der Politik steigern zu wollen, hält er für einen »gefährlichen Weg«.

Bei der Arbeitsagenturen sind 26 956 freie Stellen in Berlin und 23 551 freie Stellen in Brandenburg gemeldet. Die Unternehmen suchen weiterhin Personal, erläutert Regionaldirektionschef Bernd Becking. Er sagt: »Entgegen den bundesweiten Anzeichen für eine Konjunkturschwäche zeigt sich der Arbeitsmarkt in Berlin und Brandenburg mit der zu beobachtenden Herbstbelebung alles in allem stabil und robust.« Allerdings sei bei genauerer Betrachtung nicht zu übersehen, fügt Becking hinzu, dass die Arbeitslosigkeit allein bei denjenigen Menschen, die Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung erhalten, in beiden Bundesländern jetzt höher liegt als vor einem Jahr. Im Gegensatz zu der Zahl der Langzeitarbeitslosen, die auf eine Grundsicherung angewiesen sind, sei diese Zahl näher dran an der Konjunkturentwicklung. Es zeigen sich also quasi unter der Oberfläche auch in Berlin und Brandenburg bereits Auswirkungen einer Wirtschaftskrise.

In Berlin stieg die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten innerhalb eines Jahres um 54 000 auf 1,53 Millionen. Mit diesem Zuwachs von 3,7 Prozent liegt Berlin 2,1 Prozentpunkte über dem Bundesdurchschnitt. In Brandenburg ist die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten nur leicht um 3400 auf 882 300 gestiegen. Das Plus beträgt hier also lediglich 0,4 Prozent. Brandenburg liegt damit deutlich unter dem Bundesdurchschnitt. In der Mark sinkt die Arbeitslosenquote vor allem deswegen weiter, weil mehr Menschen in Rente gehen als Schulabgänger nachkommen. Nur 31,5 Prozent der registrierten Erwerbslosen, die im September aus der Statistik herausfielen, haben eine Arbeitsstelle gefunden.

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