Erhobenen Hauptes inmitten der Niederlage

Bischofferode wurde 1993 zum Symbol der Treuhand-Politik. Heute fordern frühere Kumpel eine Aufarbeitung.

  • Sebastian Bähr und Nelli Tügel, Bischofferode
  • Lesedauer: 12 Min.

Schlägel und Eisen über Kreuz. Das Symbol der Bergleute prangt direkt auf dem Hügel neben dem Bahnhof Bleicherode-Ost. Unmissverständlich wird allen neu ankommenden Besuchern der im Nordwesten von Thüringen gelegenen Kleinstadt gezeigt, was die Kultur dieser Region ausmacht. Hier tragen das Altersheim, der Fußballverein und selbst die Physiotherapiepraxis den Bergmannsgruß »Glück auf« im Namen. Höchstens die kleinen Zwistigkeiten der hiesigen Protestanten mit den Katholiken aus dem benachbarten Landkreis Eichsfeld scheinen für die lokale Identität ähnlich gewichtig zu sein wie der Bergbau, genauer: der Kalibergbau.

Nach kurzer Zeit im Ort aber wird auch klar: Es ist eine Identität, die sich vor allem aus der Vergangenheit ableitet, eine Industriekultur ohne Industrie. Das Unternehmen Deusa fördert zwar unter Tage noch etwas Sole, doch die einstigen großen Stollen sind stillgelegt. In Bleicherode wurde Anfang der 1990er Jahre wie in den umliegenden Gemeinden nach fast 100 Jahren der Abbau des Kalisalzes eingestellt. Die Kinder der früheren Bergleute verlassen die Region. Wenn sie bleiben, fahren sie heute als Taxifahrer ältere Anwohner zum Arzttermin, haben eine Stelle im überschaubaren Mittelstandgewerbe oder pendeln zum Arbeiten nach Niedersachsen und Hessen. Die bewohnten Fachwerkhäuser sind gepflegt, geradezu pittoresk. Dazwischen findet sich jedoch immer wieder Leerstand und Verfall. Rund 4500 Menschen arbeiten laut dem Ministerpräsidenten Bodo Ramelow (LINKE) noch im thüringischen Bergbau. Im Jahr der Wende waren es dem Bergmannsverein Erfurt zufolge knapp 31 000 Beschäftigte.

Ein Museum mitten im Niemandsland

Bleicherode ist für Zugreisende der letzte Zwischenstopp auf dem Weg nach Bischofferode, eine 1900-Einwohner-Gemeinde, bröckelnde CDU-Bastion und etwa 15 Kilometer entfernt im Eichsfeld gelegen. Ein Bahnhof ist dort schon lange nicht mehr in Betrieb. Im Waldstück neben Bischofferode verliefen während des Kalten Krieges die Grenzanlagen. Die SED hatte Ende der 1950er Jahre wohl auch deswegen versucht, mittels einer umfassenden Industrialisierung die erzkatholische Gegend zu »proletarisieren«. Im Rahmen dieses Ausbaus entstanden unter anderem eine Zementfabrik in Deuna, der VEB Kombinat Solidar Heiligenstadt und auch der Kalischacht »Thomas Müntzer« in Bischofferode, der als Erweiterung eines dort bereits seit 1909 existierenden Bergwerks entstand.

Will man sich auf die Spuren des Schachtes begeben, muss man vom Ortskern aus auf der Landstraße gen Westen fahren und die Wohnsiedlung »Thomas Müntzer« passieren. Noch ein paar Meter weiter bietet die alte Abraumhalde einen ungewöhnlichen Anblick: Ein roter Berg erhebt sich über der mittlerweile flach bebauten Gegend. Fördergerüst und Turm wurden vergangenes Jahr abgebaut. Die roten Hügel von Bischofferode erzählen von der Vergangenheit. Auch das neben ihnen gelegene Bergbau-Museum erinnert an die lokale Tradition. Und an einen der bedeutendsten Arbeitskämpfe in Ostdeutschland - den Kampf um den Erhalt des Bergwerks im Jahr 1993.

Das zweistöckige Museum befindet sich in der ehemaligen betriebseigenen Poliklinik. Neben dem Eingang steht eine Gedenktafel für im Dienst verunglückte Kollegen. Im Keller wurde ein Stollen nachgebaut, in den oberen Etagen liegen Salzkristalle und Bergarbeiteruniformen aus. Der Gemeinschaftsraum »Zum Füllort« ist vollgehängt mit Wimpeln, Fotos und Ölgemälden des alten Werks. An der Wand ein Zitat von Thomas Müntzer: »Die Herren machen das selber, dass ihn‘ der arme Mann feind wird.« Gerhard Jüttemann grüßt. Kerzengerade Haltung, energisches Auftreten, feste Stimme. Der 68-Jährige trägt Jeans und Hemd, sein weißer Bart ist gestutzt, seine Hände betonen jedes Wort. Jüttemann war Dreher unter Tage, stellvertretender Betriebsratsvorsitzender, Arbeiterführer, Bundestagsabgeordneter, danach wieder unter Tage und schließlich Lokalpolitiker.

Heute erinnert er als Vorsitzender des Kalivereins gemeinsam mit alten Mitstreitern an die früheren Schlachten. »Ich bin gleich bei euch«, sagt Jüttemann und schüttelt zwei weiteren gerade eingetroffenen Journalisten die Hände. Ein Filmteam des israelischen Fernsehens ist ebenfalls gekommen. Es will über 30 Jahre Wende in Deutschland berichten und über die Treuhand. Journalistenbesuch ist nichts Ungewöhnliches in dem kleinen Museum - noch immer interessieren sich viele für den Fall Bischofferode. Es ist allerdings kein Vergleich mit 1993. Mit Stolz in der Stimme sagt Jüttemann: »Als der Hungerstreik begann, war die Straße neben der Poliklinik voll mit Übertragungswagen.« Journalisten aus der ganzen Bundesrepublik und sogar die internationale Presse strömten in den kleinen Ort. Sie filmten und interviewten Männer und Frauen, die wütend waren - und verzweifelt. Die auf Klappbetten lagen, um Kräfte zu sparen, weil sie sich im Hungerstreik befanden. Darunter auch Willibald Nebel. »Wir mussten schlechte Erfahrungen machen, trafen aber auch auf viele solidarische Menschen«, sagt Nebel heute. »Die kleine Handvoll Bischofferoder hätte den Arbeitskampf gar nicht so lange führen können.« Der ehemalige Verlader, schlank, weißer Schnurrbart, Brille, bedächtige Stimme, Jahrgang 1948, gehörte zu den zwölf Bergleuten, die als erste am 1. Juli 1993 damit begannen, die Nahrung zu verweigern. Später waren es mehr als 40 Arbeiter, insgesamt dauerte der Hungerstreik 81 Tage. Reporter waren dabei, als Nebel in ein Krankenhaus verlegt werden musste.

Von der Gewerkschaft im Stich gelassen

Dem Hungerstreik waren monatelange Versuche vorausgegangen, die Verantwortlichen davon zu überzeugen, dass Bischofferode und die dort noch verbliebenen 700 Arbeitsplätze erhalten bleiben müssten. Vergeblich: Die der Treuhand gehörende Mitteldeutsche Kali AG - nach der Wende aus dem Kombinat Kali hervorgegangen - sollte mit der westdeutschen Kali und Salz, einer Tochter des BASF-Konzerns, fusionieren. Zu diesem Zeitpunkt waren 27 000 von 32 000 Arbeitsplätzen in der ostdeutschen Kali- und Salzindustrie abgebaut worden. Die Treuhand behauptete dennoch, nicht alle Gruben könnten im Zuge der Kalifusion weiterbetrieben werden. Sowohl in West- als auch in Ostdeutschland würden Arbeitsplätze abgebaut werden - für BASF war der Deal ein Glücksfall, da man so die Kontrolle über den bundesweiten Markt erhielt.

Für die Belegschaft von Bischofferode waren die im Dezember 1992 durchgesickerten Schließungspläne eine Katastrophe. Es kam zu Kundgebungen, schließlich entschieden die Bergleute mehrheitlich, das Werk zu besetzen. Im Sommer eskalierte die Auseinandersetzung. Zwar waren die Ereignisse Teil einer ganzen Reihe von Protesten gegen Betriebsstilllegungen im Ostdeutschland der frühen 1990er Jahre - doch Bischofferode wurde zum Symbol einer brutalen Treuhandpolitik. Der niedersächsische Unternehmer Johannes Peine etwa wollte investieren, die Kaliförderung fortführen und die Arbeitsplätze erhalten. Die Beschäftigen setzten Hoffnungen in die Einzelprivatisierung und wollten aus dem Fusionsvertrag herausgehalten werden - doch die Verantwortlichen hatten daran kein Interesse. Heute weiß man, dass in dem Vertrag ein Wettbewerbsverbot festgeschrieben worden war - niemand außer der Kali und Salz sollte in Deutschland Kalisalz vertreiben dürfen. Statt Peine kam die Polizei: Zeitweise hielten sich mehr Beamte in Bischofferode auf, als der Ort Einwohner hatte. Willibald Nebel schüttelt noch heute ungläubig den Kopf, wenn er sich daran erinnert - und daran, wie martialisch die Staatsdiener mit den Arbeitern umgingen.

Die Zeugnisse der damaligen Auseinandersetzung werden heute im Museum am alten Schacht sorgsam aufbewahrt und gepflegt. »Wir kennen die BASF schon lange! LudwigshafenerInnen grüßen die Erben von Thomas Müntzer« steht auf einem großen Transparent im Korridor, daneben hängt ein Banner mit aufgemalter geballter Faust. Buttons der IG Metall mit der Aufschrift »Für die soziale Einheit Deutschlands« liegen neben einer Spendendose aus. Überall hängen Fotos der Mahnwachen und Protestaktionen von 1993 neben Insignien praktizierter Solidarität. Denn der Arbeitskampf von 1993 erzeugte nicht nur ein internationales Medienecho, sondern ebenso eine Welle von Mitgefühl und Unterstützung für die Kalikumpel - von DDR-Intellektuellen und von Politikern, vor allem der PDS, von Künstlern wie den Pudhys und auch aus dem Westen. Stahlkocher etwa, die 1987/88 in Duisburg-Rheinhausen selbst einen spektakulären, für den Strukturwandel des Ruhrgebiets ähnlich symbolträchtigen Kampf für den Erhalt ihres Werkes geführt hatten, kamen ins Eichsfeld und übergaben den Kollegen aus dem Osten einen Scheck: das aus ihrem Arbeitskampf übriggebliebene Spendengeld in Höhe von mehreren Tausend D-Mark.

Wer 1993 allerdings nicht kam, um die Bischofferoder zu unterstützen, war die Gewerkschaft IG Bergbau und Energie. Stattdessen ließ sie Kollegen im August 1993 in Kassel, wo die Kali und Salz ihren Hauptsitz hat, für die Fusion und für die Schließung von Bischofferode demonstrieren. »Von uns sind damals die Frauen nach Kassel gefahren, um denen die Stirn zu bieten. Die Frauen, dachten wir, werden keine Prügel kassieren, da halten die sich zurück«, erzählt Jüttemann. Wenn es um die IG Bergbau und Energie geht, ist die Bitterkeit in seiner Stimme nicht zu überhören. Über die Gewerkschaft schrieb die Wochenzeitung »Zeit« im Spätsommer 1993, sie sei für die Zuspitzung des Konflikts eindeutig mit verantwortlich. In beispielloser Weise habe sich Gewerkschaftschef Hans Berger von Anfang an »auf die Seite seiner Westklientel« geschlagen. »Ein Gewerkschaftsvorsitzender, der so wenig Solidarität zur Schau trägt, diskreditiert sich selbst«, so die »Zeit« damals.

In Bischofferode war es schließlich mit Bodo Ramelow, heute Ministerpräsident, ein aus dem Westen stammender Gewerkschaftssekretär der HBV, der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen, der für die Bischofferoder einen Sozialplan verhandelte. Denn trotz immenser öffentlicher Aufmerksamkeit und auch Kritik blieben Treuhand und Bundestag dabei, dass das Bergwerk dicht gemacht werden müsse, um die Fusion nicht zu gefährden. Eine Prüfung der Kalifusion durch die Wettbewerbsbehörde in Brüssel, wegen derer die Kumpel ihren Hungerstreik im September 1993 beendeten, änderte ebenfalls nichts. Ende des Jahres mussten die Beschäftigten aufgeben, der Betriebsrat stimmte einem Sozialplan zu. Zum 1. Januar 1994 wurde Bischofferode geschlossen, der Rückbau der Anlagen dauerte noch mehrere Jahre. Viele der Beschäftigten arbeiteten also erst einmal weiter, um ihren eigenen Betrieb abzubauen. Er existiert heute nicht mehr.

Wut und die Überzeugung, der Kalifusion geopfert worden zu sein, aber sind geblieben - ebenso wie viele offene Fragen. Gerade erst ergab eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag an das Bundesfinanzministerium, dass die Kalifusion 1,15 Milliarden Euro gekostet hat. Überdies ist das Land Thüringen noch immer verpflichtet, jährlich einen Millionenbetrag an die Kali und Salz zu zahlen, mit dem Sicherungsarbeiten in stillgelegten Gruben finanziert werden. Im Fusionsvertrag wurde der Konzern nämlich seinerzeit durch die Treuhand von den finanziellen Lasten für die DDR-Kali-Gruben freigestellt. Dietmar Bartsch, Fraktionsvorsitzender der LINKEN im Bundestag, sprach vor wenigen Tagen im Zusammenhang mit der Kalifusion von einem der »miesesten Treuhand-Geschäfte« überhaupt - und dürfte damit den betroffenen Bergleuten aus der Seele sprechen.

Offene Fragen und der Wunsch nach einem Treuhandausschuss

Den Zorn auf die Treuhand haben die Bischofferoder allerdings nicht exklusiv für sich gepachtet. Bei vielen Ostdeutschen hält er bis heute an. Die Linkspartei forderte angesichts neu veröffentlichter Akten bereits im April dieses Jahres einen weiteren parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Treuhand. Sicher auch wegen der Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen - aber ebenso, weil es ihr ums Prinzip geht.

Jüttemann, Nebel und ihre Mitstreiter sind davon überzeugt, dass das eine richtige Forderung ist. »Machen wir uns nichts vor, die Sachen, die in der Treuhand liefen, waren nicht sauber«, sagt der ehemalige stellvertretende Betriebsratsvorsitzende heute und ballt die Faust, während er spricht. »Man hat nie Ross und Reiter genannt, bis heute ist unklar, wer für was genau verantwortlich war.« Jüttemann macht sich keine Illusionen. Was weg ist, ist weg, daran lasse sich nichts mehr ändern. Doch es gehe um Gewissheit und Würde. »Für diesen und jenen, nicht nur in Bischofferode, wäre es eine Genugtuung zu erfahren, dass sie eine Chance gehabt hätten. Dass sie noch heute arbeiten könnten und nicht jahrelang auf Arbeitslosengeld hätten angewiesen sein müssen.«

Als einzige Partei schloss sich kürzlich die AfD der Forderung nach einem Untersuchungsausschuss an. »Heimatzerstörung hat hier einen Namen - und dieser Name lautet Treuhand«, posaunte »Volkstribun« Björn Höcke, thüringischer AfD-Vorsitzender und Wortführer des rechtsradikalen »Flügels«, im Mai auf einer Veranstaltung. Immer offensiver versucht sich die Rechtsaußenpartei als neuer Kümmerer im Osten aufzustellen. Für Jüttemann: »blanker Populismus«. Die AfD greife nun Ideen auf, die die Linkspartei schon seit Jahren vertrete. Sie versuche aus der Unzufriedenheit der Bürger Profit zu schlagen. Die Unzufriedenheit selbst allerdings, da dürfe man sich auch nichts vormachen, die sei berechtigt.

Die Stimmung in der Region ist schwer zu fassen. Nein, Bischofferode stehe heute verhältnismäßig gut da, versichert Jüttemann. Die Infrastruktur sei gut, die Arbeitslosigkeit gering. Und doch: Vieles von dem, was früher selbstverständlich war, ist es nicht mehr. Zu DDR-Zeiten beheizte das bergwerkseigene Kraftwerk das örtliche Hallenbad. Heute gibt es in Bischofferode zumindest noch einen Penny. Das kollektive Leben wurde wie in vielen anderen Orten durch eine neue, mitunter härtere Privatheit ersetzt. Unterschwellige Wut speist sich aus gestohlenen Lebensmöglichkeiten, nicht eingehaltenen Versprechen, nie ausgesprochenen Entschuldigungen, aus Schieflagen und fehlenden Repräsentationen im Hier und Jetzt. »Die Menschen fühlen sich als Bürger zweiter Klasse«, sagt der alte Arbeiterführer.

Thüringens CDU-Ministerpräsident Bernhard Vogel versprach 1993 den Kalikumpeln von Bischofferode 1000 Ersatzarbeitsplätze, entstanden sind bis heute 70. Viele der neu angesiedelten Firmen gingen in die Insolvenz. Rund 1000 Einwohner, knapp ein Drittel, zogen weg, fünf Wohnblöcke wurden abgerissen. Der Rest hatte sich dann so gut es eben ging arrangiert. Doch noch heute gibt es im Keller des Kali-Museums einen Raum, der den Plänen des früheren Hoffnungsträgers Johannes Peine gewidmet ist. Ein modernes Miniaturbergwerk steht dort eingeschlossen in einem Glaskasten. Winzige, mit »Peine« beschriebene rote Lastwagen warten vor Kali-Silos auf ihre Lieferungen. Schätzungen zufolge lagern im Eichsfeld noch 178 Millionen Tonnen Kalisalz im Wert von rund 3,5 Milliarden Euro, die die Region noch 40 bis 50 Jahre versorgt hätten. Nach aktuellen Zahlen des K+S-Konzerns kann man noch mindestens bis 2060 zu wirtschaftlichen Bedingungen Kali fördern, aus Sicht der Unternehmensleitung auch ökologisch nachhaltig. Durch Flutungen mit Lauge wurden jedoch die Lagerstätten von Bischofferode unbrauchbar gemacht.

Was an den damals Beteiligten nagt, ist die Überzeugung, um eine Chance gebracht worden zu sein. Die alten Kämpfer von Bischofferode sind immer noch sauer, sie sehen sich aber nicht als Opfer. »Wir haben unser Ziel nicht erreicht, aber wir haben uns gewehrt. Wir können uns nichts vorwerfen lassen«, sagt Jüttemann. Anders als im Großteil des Ostdeutschlands der 1990er Jahre war Ohnmacht nicht das bestimmende Gefühl der Bischofferoder. Die Auseinandersetzungen mit Treuhand, Bundesregierung, Konzernen und auch Gewerkschaft haben zumindest Momente der Selbstermächtigung und Solidarität geschaffen, kleine Siege in der großen Niederlage. Und vielleicht damit auch Immunisierungen gegen die Versuche von Rassisten, die Wut nach rechts zu kanalisieren. Allerdings: Das jüngste Mitglied des Kalivereins aus Bischofferode ist in seinen 50ern, es fehlt der Nachwuchs, es gibt ja keinen Bergbau mehr. Der Arbeitskampf verblasst zusehends zu einer Geschichte aus vergangenen Zeiten.

Dass sich etwas verschiebt im Eichsfeld, zeigten auch die thüringischen Kommunalwahlen im Mai. Die jahrelang unanfechtbare CDU verlor neun Prozent und kam nur mehr auf 48 Prozent der Stimmen, die AfD wurde mit 13,5 Prozent auf den zweiten, die Linkspartei mit Verlusten und rund sieben Prozent auf den dritten Platz gewählt. Björn Höcke erhielt 12 390, Jüttemann für die LINKE nurmehr 826 Stimmen: Es ist das erste Mal, dass er nicht mehr im Kommunalparlament sitzen wird. Höcke nennt das Eichsfeld sein »Bullerbü«, sein »Refugium«.

Vom Taxi aus geht ein letzter Blick auf den roten Berg und das Museum im thüringischen Niemandsland. Am Eingang steht ein schwarzer Waggon, darauf geschrieben »Kali«, Schlägel und Eisen sind eingraviert. Wie lange er zur Mahnung noch hier aufgestellt bleiben wird, ist ungewiss. Das Erinnern fortzusetzen, bleibt eine schwierige Aufgabe. Eine ungleich schwierigere Aufgabe ist es, in Regionen wie dieser durch Deindustrialisierung zerstörte Zukunftschancen wieder herzustellen.

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