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Einsamkeit und Mannschaftsport

Handke, Rehhagel, Straßenpfosten: Probleme auf der Frankfurter Buchmesse 2019

Mich würde interessieren, wer mehr Leute gekillt hat, die Christen oder die Moslems.« Das ist keine Frage aus einem Gespräch auf der Frankfurter Buchmesse über die Jugoslawienkriege, auf die man bei der Dauerdiskussion des Literaturnobelpreises für Peter Handke hätte kommen können, sondern aus dem neuen sehr guten Kriminalroman »Ein Schuss ins Blaue« von Franz Dobler, der ihn am Donnerstagabend im Rahmen der Messe vorstellte.

Da unterhalten sich zwei Ex-Polizisten an einem Stehimbiss. Sie jagen einen islamistischen Attentäter. Der eine der beiden ist jüdischer Herkunft, wie man so sagt, der andere fragt ihn: »Warum gehen die Juden eigentlich nicht los und killen Andersgläubige? Ich rede nicht von Notwehr. Sondern Losgehen und mit Sprengstoff die anderen bekehren oder auslöschen.« Antwort: »Die sind froh, wenn man sie in Ruhe lässt. Passiert leider selten. Leute, die ihre Ruhe haben wollen, neigen dazu, andere in Ruhe zu lassen. Ist meine Theorie.« Ist das der Grund für den Hass, will der erste Expolizist wissen: »Weil’s eine starke Provokation ist, von anderen zu fordern, dass sie dich und andere in Ruhe lassen sollen, fuck off and mind your own business? Und die anderen sagen, wir sind verantwortlich dafür, dass du in den Himmel kommst. Wenn wir dich in deinem Unglauben hängen lassen, werden wir von Gott dafür bestraft, unterlassene Hilfeleistung, also können wir nicht anders.«

So funktioniert Antisemitismus und anderer Wahnsinn wie die ethnischen Säuberungen in den Jugoslawienkriegen, die Vertreibungen und Massaker. Die »Ethnien« mussten dazu erst ausgerufen werden, definiert über die im sozialistischen Jugoslawien überwunden geglaubte Religion. Wer in Bosnien katholisch war, galt als »Kroate«, wer orthodox war, als »Serbe« und wer moslemisch war, als »Bosnier«. Diese Glaubensfragen hatten unter Tito Jahrzehnte lang keine Rolle gespielt. Erst als der Staat pleite war, wurden sie propagiert und instrumentalisiert – mit lebensgefährlichen Folgen für die Leute, die einfach nur in Ruhe gelassen werden wollten.

Davon handelt der Roman »Herkunft« von Saša Stanišić, mit dem er am vergangenen Montag in Frankfurt den Deutschen Buchpreis gewann. Er ist in Bosnien geboren und musste 1992 als Jugendlicher mit seiner Mutter nach Deutschland vor ethnisch säubernden Serben fliehen. Mittlerweile ist er Deutscher und schreibt seine Bücher in Deutsch. Die stärksten Passagen seines Buchs handeln von der Negation von Nationalismus und Identifikation. »Ich war für das Dazugehören«, schreibt er. »Überall, wo man mich haben und wo ich sein wollte. Kleinsten gemeinsamen Nenner finden: genügte.«

Umso merkwürdiger war sein Angriff auf Peter Handke in seiner Preisrede, am Tag seines größten Triumphs ein Rückfall vom Postmodern-Kosmopolitischen ins Ethnifizierende und Identifikatorische, was er während der Buchmesse öfters wiederholte. Stanišić war wieder Bosnier. Und Handke seiner Meinung nach ein literarischer Kriegsverbrecher, weil der 1996 auf pathetisch-schwärmerische Art »Gerechtigkeit für Serbien« gefordert hatte, nachdem er das Land bereist hatte. Für die deutsche Presse bis heute ein unerhörter Vorgang, sollte doch allein Serbien am blutigen Zerfall Jugoslawiens schuld sein. Und was davon noch übrig war oder auch nur so hieß, erledigte dann die NATO 1999 unter Beteiligung der Bundeswehr, es war der erste deutsche Kriegseinsatz nach 1945, befohlen von der ersten SPD-Grünen-Bundesregierung.

Die Woche der Handke-Kritik wurde von realen Kriegshandlungen begleitet, vom Einmarsch der Türkei in die kurdischen Gebiete Syriens, was die großen deutschen Medien weniger interessierte. Das militärische Salutieren türkischer Fußballspieler fand man allerdings übertrieben. Hierzu passte eine Lesung auf der Buchmesse, die von der Kulturstiftung des Deutschen Fußballbundes mitveranstaltet wurde. Unter dem Titel »Heimat. Identität. Fußball« lasen und diskutierten am Freitag deutsche und norwegische Schriftsteller, die einen Tag später gegeneinander Fußball spielten sollten – als Mitglieder der deutschen und der norwegischen Nationalmannschaft der Autoren. Norwegen war ja das Gastland der diesjährigen Messe. Es verlor dann 3:5 gegen die Deutschen.

Auf dem Podium waren der Journalist und Autor Thomas Espevik und der Lyriker Lars Haga Raavand, deren Texte vom deutschen Dramatiker Christoph Nussbaumeder in übersetzter Fassung vorgetragen wurden. Er las auch eine Lobrede auf die Fans von Bundesligaaufsteiger Union Berlin, die er selbst verfasst hatte. Otto Rehhagel, die mittlerweile 81-jährige Trainerlegende, die aus Gründen der Aufmerksamkeitssteigerung als Stargast mit auf der Bühne saß, hatte keinen eigenen Text dabei, sondern plauderte fröhlich in das fast nur aus Männern bestehende Publikum. Angeblich sollte er die deutsche Autorenmannschaft für einen Tag trainieren. Mit dem Außenseiterteam von Griechenland war er ja 2004 sensationellerweise Europameister geworden. War es damals schwierig, sich verständlich zu machen, wollte Moderator Norbert Kron von ihm wissen. Gar nicht, meinte Rehhagel: »Wenn ein Tor fiel, war alles gesagt.« Er hatte auch mit Werder Bremen und dem 1. FC Kaiserslautern außergewöhnliche Erfolge gefeiert. Zu einer Aussage, wo er sich denn fußballerisch am ehesten »heimisch« fühlen würde, war er nicht bereit. Auch die anderen Schriftsteller wollten Fußball als weltoffenes Spiel verstanden wissen. Sie machten darauf aufmerksam, dass die allgemein beklagte Kommerzialisierung die lokalen Borniertheiten dieses Sports zusehends abwerfe. Rehhagel formulierte es so: »Wie sang unser alter Freund Karel Gott? Einmal um die ganze Welt und die Taschen voller Geld.«

Geld sei eben die »erfolgreichste Sprache der Welt« sagte der Münchner Schriftsteller Ernst-Wilhelm Händler, als er am Samstag seinen Roman »Das Geld spricht« vorstellte. Darin gibt es einen namenlosen »Banker«, der eine halbe Milliarde US-Dollar eines namenlosen »Gründers« in Hedgefonds anlegen will. Es gehe vorrangig um die Funktionen, sagte Händler. Der Banker ist sensibel und liest Goethe, wie übrigens auch Rehhagel, der den »Zauberlehrling« auswendig rezitierte. Und auch die Bundesregierung ist sensibler als gedacht und verlieh auf der Messe zum ersten Mal den deutschen Verlagspreis, weil die kleinen Verlage prekärer arbeiten denn je, unter anderem gebeutelt von der Insolvenz des Großhändlers KNV. 60 kleine Verlage bekommen als Soforthilfe je 15 000 Euro und drei besonders darbende Verlage (Hädecke, Kookbooks und Spector Books) jeweils 60 000 Euro.

In Händlers Roman spricht das Geld tatsächlich. Es macht sich Sorgen, dass es an Wert verliere. Denn die »Wertaufbewahrungsfunktion«, die die klassische VWL dem Geld auf dem Bankkonto zubillige, sei in der Niedrig- beziehungsweise Negativzinspolitik der Gegenwart im Verschwinden begriffen. Die Leute sollen ihr Geld ausgeben – und sie müssen es auch, weil das Wohnen in den Städten immer teurer wird. Davon handelt lehrbuchartig der Roman »Sanierungsgebiete«, den Enno Stahl in Frankfurt vorstellte, im Ratskeller auf dem Römer, mitten in einem High-Tech-sanierten Stadtviertel, dessen Neubauten wie Altbauten aussehen sollen. Die Touristen sind begeistert und kommen in Scharen. Das Geld muss sich keine Sorgen machen. Ebenso wenig in Berlin-Prenzlauer-Berg, von dessen Ausverkauf Ende der Nullerjahre Stahl in seinem Buch erzählt. Dort wird wie in München-Schwabing niemals mehr etwas billig sein, hatte auch Händler während seiner Lesung konstatiert. Stahl wiederum sprach von einem Mietshaus in der Gegend, das Ende der 90er Jahre für 800 000 DM gekauft, restauriert und wieder verkauft und nochmal verkauft wurde, und zehn Jahre später ist es dann zehn mal so viel Wert.

Stahl hat an seinem Buch 12 Jahre gearbeitet. Was er daran verdient, wird höchstwahrscheinlich nur sehr symbolisch sein. Macht er deshalb trotzdem Bücher? Ja. Auf der Fußball-Lesung mit Rehhagel sprach Moderator Norbert Kron von der »Einsamkeit des Schriftstellers bei der Sinnsuche«, der sich aber trotzdem an die ganze Welt richte, wie der Lyriker Raavand ergänzte, insofern sei das Schreiben ein Mannschaftsport wie Fußballspielen. Und die Heimat eben die ganze Welt.

»Jürgen, du musst auf den Kleinscheiss achten«, habe ihm der Zeichner und Dichter F.W. Bernstein geschrieben, berichtete der Schriftsteller Jürgen Roth, als er am Messestand der »jungen Welt« das nächste Projekt dieser Zeitung vorstellte: Ab dieser Woche soll ein Jahr lang täglich eine Zeichnung aus dem Nachlass des Ende letzten Jahres verstorbenen »anarchischen Genies« der Neuen Frankfurter Schule erscheinen. Bernstein habe praktisch ununterbrochen gezeichnet und deshalb auch reihenweise Straßenpfosten, Kieselsteine und Vögel skizziert. Ähnlich wie Jean Paul sei Bernstein überzeugt gewesen, dass ein Staubkorn so wichtig sei wie ein Komet, der an der Erde vorbeifliegt. Auf Youtube gibt es ein Video, in dem Bernstein sinngemäß sagt, wenn die Welt schon so scheiße ist, dann muss man sich Anlässe suchen, zu lachen.

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