nd-aktuell.de / 04.11.2019 / Politik / Seite 4

Ein Tribunal am zentralen Ort der Täter

Erinnerung an Opfer der rechten Terrorgruppe NSU in Chemnitz und Zwickau / Merkel besucht neuen Gedenkort

Hendrik Lasch

Aus einem Baum wurden zehn. Sie stehen am Zwickauer Schwanenteich und erinnern an zehn Menschen, die vom »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU) ermordet wurden. Am Sonntag wurde der Gedenkort eingeweiht. Zwischenzeitlich gab es dabei Unmut über einen Kranz, den die AfD-Fraktion Zwickau am Vortrag abgelegt hatte. Eine Frau schnitt das Band der Partei ab, woraufhin die Polizei die Personalien der Frau feststellen wollte. Dagegen protestierten einige Besucher. Am heutigen Montag will die Bundeskanzlerin den neuen Ort besuchen.

Zunächst war nur ein Baum für Enver Simsek gepflanzt worden, das erste Opfer der rechten Terrorgruppe, die sich heute vor acht Jahren selbst enttarnte. Der Baum wurde Ende Oktober abgesägt. Der Vorfall löste bundesweite Empörung aus – und viel Solidarität. Das Spektrum der Stifter für Gedenktafeln neben den Bäumen reicht vom Auschwitz-Komitee bis zum VW-Konzern, der in Zwickau ein Werk betreibt. Zugleich hielt man es für ratsam, den Gedenkort ständig von der Polizei sichern zu lassen.

Dokumentationszentrum gefordert

Das Für und Wider zeigt, dass es mittlerweile auch in den Orten der Täter einen Diskurs zum Thema NSU gibt, sagt Danilo Starosta vom »Kulturbüro Sachsen« – anders als in den Monaten nach Auffliegen der Terrorzelle, deren Mitglieder jahrelang in Zwickau gelebt hatten und dabei »Teil der Stadtgesellschaft« geworden seien. Davon hatte man in der Stadt zunächst nichts hören wollen. Jetzt, sagt Starosta, gibt es kontroverse Debatten. Sie auszutragen, brauche freilich einen Ort. Der Platz mit den zehn Bäumen sei eine »erste Idee, das Thema darzustellen«, sagt er; daneben sei in Zwickau aber ein »institutionalisierter Gedenkort« nötig, an dem Material zum NSU archiviert wird; wo sich Schüler, aber etwa auch Polizisten dazu bilden könnten – und wo zudem dokumentiert werden müsste, wie schwer sich die Bundesrepublik damit tut, Netzwerke des NSU aufzuklären und gegen sie vorzugehen.

Material dazu können die Tribunale »NSU-Komplex auflösen« zur Verfügung stellen, deren drittes an diesem Wochenende in Chemnitz und Zwickau stattfand. Nach Veranstaltungen in Köln 2017 und Mannheim 2018 sei man damit erstmals an den »zentralen Orten der Täter«, sagt Mitorganisator Massimo Perinelli. Das Anliegen der Tribunale sei eine »zivilgesellschaftliche Anklage« gegen jene, die den NSU unterstützt hätten – und es bis heute nicht schaffen, wirksam gegen diese Netzwerke vorzugehen. Perinelli verwies auf das Urteil des Oberlandesgerichts München gegen Beate Zschäpe, einzige Überlebende des NSU-Kerntrios, sowie einige Unterstützer. Mit dem Richterspruch seien »die Opfer verhöhnt und allein gelassen« worden. Er sei als ermutigendes »Signal an die Täter« verstanden worden, wie die ausländerfeindlichen Ausschreitungen ab Ende August 2018 in Chemnitz, aber auch der Mord an Kassels Regierungspräsident Walter Lübcke oder zuletzt das Attentat auf die Synagoge und ein Dönergeschäft in Halle gezeigt hätten.

Zu den Anliegen der Tribunale gehört, Mitverantwortliche für den NSU-Terror zu benennen; eine entsprechende »Anklageschrift« umfasse bereits 90 Namen, sagt Perinelli. Zudem gehe es darum, Opfern zuzuhören. Diese Perspektive sei in der Vergangenheit oft ausgeblendet worden, sagt Hannah Zimmermann vom Projekt »Offener Prozess«. Sie erinnerte daran, dass es 2006 in Köln und Kassel große Demonstrationen aus dem Umfeld der NSU-Opfer gegeben hatte, die darauf drängten, rechtsextreme Tatmotive für die Mordserie zu untersuchen. Diese Forderung hätten nicht nur Behörden, »sondern auch wir als Gesellschaft nicht ernst genommen«, sagt sie selbstkritisch. Die NSU-Tribunale wollten Lehren aus diesem Versagen ziehen – mit Erfolg, sagt Perinelli. Sie würden auch von Betroffenen anderer rechter Anschläge als Orte akzeptiert, an denen sie über ihre Erfahrungen berichten könnten. Beim Tribunal in Chemnitz beteiligte sich etwa Ali Tulasoglu, dessen Restaurant in Chemnitz im Oktober 2018 von Nazis niedergebrannt wurde. Daneben gab es bei der Veranstaltung, die mit 300 bis 400 Teilnehmern restlos ausgebucht war, Vorträge, Workshops, »kritische Stadtspaziergänge«; am Sonntag fuhr man nach Zwickau zur Einweihung des Gedenkortes.

Dass dieser auch von der Kanzlerin besucht werde, verstehe man als »Wertschätzung für die Akteure in der Stadt«, sagt Starosta, der freilich nun vom Bund wie vom Land auch finanzielle Unterstützung für das erhoffte Dokumentationszentrum verlangt. Aus Zwickaus Rathaus gebe es Rückhalt, sagt Zimmermann; Geld für die Erarbeitung eines Konzepts, die von zivilgesellschaftlichen Initiativen erwartet werde, fehle aber bisher. Deshalb ist unklar, ob Starostas Hoffnung realistisch ist: auf eine Grundsteinlegung im November 2021, zehn Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU.