nd-aktuell.de / 15.11.2019 / Politik / Seite 4

Traum von der Volkspartei

Zu Beginn ihres Parteitags steht die Ökopartei vor strategischen Dilemmata

Aert van Riel

In lockeren Gesprächen werden oft Dinge offen ausgesprochen, die man sich in einem anderen Rahmen lieber verkneift. So war es auch vor zwei Wochen im Stuttgarter Schauspielhaus. Der Entertainer Harald Schmidt fragte den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, wer von den Grünen für eine Kanzlerkandidatur infrage käme. Kretschmann antwortete: »Habeck.« Der Parteichef sei ein »Kommunikator« und verfüge als früherer Umweltminister von Schleswig-Holstein zudem über »Exekutiverfahrung«. Nach Medienberichten soll Kretschmann die Ko-Vorsitzende Annalena Baerbock mit keinem Wort erwähnt haben. Später ruderte er zurück und sagte, nun sei der falsche Zeitpunkt für eine solche Debatte.

Auf dem am Freitag beginnenden Parteitag in Bielefeld werden Habeck und Baerbock als harmonisches Paar auftreten, das mit einer überwältigenden Mehrheit im Amt bestätigt wird. Die Doppelspitze funktioniert, wenn es um den Partei- und Fraktionsvorsitz geht, doch es kann nur einen Kanzlerkandidaten geben. Weil die Grünen in den Umfragen mit Werten zwischen 18 und 22 Prozent auf Platz zwei hinter der Union liegen, könnte in den kommenden Monaten die Diskussion über die Kanzlerkandidatur tatsächlich losgehen. Mit der Harmonie, die Kretschmann wohl nicht frühzeitig stören wollte, dürfte es bei den Grünen dann vorbei sein. Denn sowohl Habeck als auch Baerbock sehen die eigene Arbeit als wichtigen Grund für den Höhenflug ihrer Partei.

Diese profitiert bislang davon, dass Klimaschutzfragen weit oben auf der politischen Agenda stehen. Wenn diese Debatte anhalten sollte, haben die Grünen Chancen auf gute Wahlergebnisse. Allerdings muss auch bedacht werden, dass die Partei seit 2005 die kleinste Fraktion im Bundestag stellt und bei Bundestagswahlen zumeist hinter den eigenen Erwartungen zurückblieb.

Einen großen Hype um die Grünen gab es nach dem Reaktorunglück von Fukushima im März 2011. Die Partei schnellte in den Umfragen nach oben und gewann bei Landtagswahlen deutlich hinzu. Der damalige Spitzenmann Jürgen Trittin wehrte in Interviews geschmeichelt die Frage ab, ob er der erste Kanzlerkandidat seiner Partei werden wolle.

Damals sorgten Kanzlerin Angela Merkel und ihr schwarz-gelbes Kabinett mit der Rückkehr zum Ausstieg aus der Kernenergie dafür, dass die Grünen kein zentrales Thema mehr hatten. Hinzu kam, dass sich die Partei bei Umweltinitiativen unbeliebt gemacht hatte, weil sie den Ausstiegsplan der Regierung aus der Atomenergie unterstützte, anstatt weitergehende Forderungen zu stellen.

Nun sind die Grünen unter anderem auf die Unterstützung der Klimaschutzbewegung angewiesen. Diese hat viel Kritik an dem Klimapaket der Bundesregierung geübt, das am Freitag im Bundestag beschlossen wird. Das Gesetz wird auch noch im Bundesrat verhandelt. Hier sind Union und SPD auf die Zustimmung aus Ländern angewiesen, in denen die Grünen mitregieren.

Winfried Kretschmann hat bereits angekündigt, seine Partei wolle in der Länderkammer Nachbesserungen zumindest an zustimmungspflichtigen Teilen des Vorhabens erreichen. Er kritisierte insbesondere die von der Großen Koalition geplante CO2-Bepreisung durch den nationalen Emissionshandel als zu schwach. Wenn sich die Grünen im Bundesrat kompromissbereit präsentieren, werden ihnen das die radikaleren Unterstützer der Klimaschutzbewegung, darunter zahlreiche Aktivisten von »Fridays for Future«, sicherlich übel nehmen. Wie negativ die Folgen für die Partei sein würden, ist nicht absehbar. In den Umfragen ging es für die Grünen zuletzt etwas zurück. Auf ihrem Bielefelder Parteitag werden sie sich bemühen, die Unterschiede zur Großen Koalition in der Klimapolitik herauszustellen.

Die Partei wird in jedem Fall für bürgerliche Wähler eine Option bleiben, die Schwarz-Grün präferieren. CDU und Grüne regieren bereits in vier Bundesländern in unterschiedlichen Konstellationen miteinander. Bald werden wohl auch Brandenburg und Sachsen hinzukommen.

Die drei jüngsten Landtagswahlen im Osten haben aber auch gezeigt, dass die Grünen hier deutlich schwächer abschneiden als im Westen. Besonders in ländlichen Regionen haben sie Probleme, wohl auch wegen ihres Images. Ein Paradebeispiel für die Hochnäsigkeit von westdeutschen Grünen gegenüber dem Osten lieferte zu Beginn des Jahres Robert Habeck. Er warb auf Twitter dafür, Thüringen bei der Wahl im Herbst zu einem »offenen« und »demokratischen« Land zu machen. Bevor eine Debatte darüber aufkommen konnte, welche Demokratiedefizite Habeck in Thüringen ausgemacht oder ob er sich einfach unglücklich ausgedrückt hat, verabschiedete er sich kurzerhand von Twitter und Facebook.

Als Kanzlerkandidat müsste Habeck im Osten und im Westen punkten. Kretschmann traut ihm das wohl auch deshalb zu, weil sein Wissen über so manche Gebiete jenseits der baden-württembergischen Landesgrenzen erhebliche Lücken aufweist.