Fensterlose Stahlkolosse

Eine Schau in Berlin zeigt Werke von Syd Mead, der vor allem für Science-Fiction-Filme zukunftsweisende Welten kreierte

  • Christopher Suss
  • Lesedauer: 4 Min.

Ridley Scotts »Blade Runner« beeinflusste die visuelle Gestaltung dystopischer Science-Fiction wie wenig andere Filme. Neben heute ikonischen Passagen wie dem »Tears in Rain«-Monolog sind es vor allem Szenografie und Architektur, die bleibende Eindrücke hinterließen und zahllos Nachahmung fanden. Der im US-amerikanischen Minnesota geborene Industriedesigner Syd Mead sollte für diesen Film zunächst nur die Vehikel entwerfen, schwebende, selbstfahrende Automobile, wurde aber von Scott dann zu dem berufen, was man heute »Art Director« nennen würde. Er lässt sich stattdessen »Visual Futurist« taufen. Mead gestaltete während der Produktionsjahre schließlich die gesamte »Blade Runner«-Welt und eine Stadt von morgen, von der eine Version jetzt Gegenwart ist: Das in Los Angeles angesiedelte Science-Fiction-Drama spielt im November 2019.

Im »O & O Depot« in der Berliner Leibnizstraße erzählen diese Entstehungsgeschichte der Kurator-Kunsthistoriker Boris Hars-Tschachotin und der ideengebende Architekt Markus Penell. An den Wänden hyperdetaillierte Skizzen und Gouachemalereien von Syd Mead, für »Blade Runner«, für Kunden aus der Industrie und für Filme, die nicht realisiert wurden. Unter der Führung der beiden Männer entstand eine Ausstellung, die, so Penell, vermutlich als einzige dieses Zusammentreffen von Fiktion und Realität im diesjährigen November feiert. Mehr als zwei Jahre dauerte das Projekt vom Konzept bis zur Hängung in der Charlottenburger Galerie. Hars-Tschachotin und Penell wollten sich völlig auf die architektonischen Entwürfe und Stadtlandschaften Meads konzentrieren. Nicht ohne Grund: Penell zeichnet als Architekt aktuell für das Großprojekt »Urbane Mitte am Gleisdreieck« verantwortlich, dessen Baubeginn für 2020 geplant ist. Am Berliner Gleisdreieckpark wird, nachdem O & O Baukunst den Planungswettbewerb gewann, ein Archipel von sieben Stadtinseln entstehen, der im Presseheft auf vier Seiten beworben wird. Versetzt man sich in die ausgestellten Bildwelten oder erinnert sich darüber hinaus an den Film, der 1982 unsere Gegenwart als stahlgrauen Moloch voller Dampfschwaden prognostizierte, durch das mordende Menschenrepliken wandeln, kommt man nicht umhin, diese Verbindung als Spagat anzusehen. Der klafft einerseits unangenehm, kommt aber andererseits nicht ohne poetischen Reiz daher. Schließlich treffen auch hier Fiktion und Realität zusammen - und sehen sich ähnlich, ohne identisch zu sein.

Dann kommt auch Syd Mead zu Wort: Ein kurzer Dokumentarfilm in Zusammenarbeit mit Arte, präsentiert auf dem iMac der Galerie. Hars-Tschachotin drehte dieses reduzierte Interview vor Ort in Los Angeles und unterlegte es mit Detailaufnahmen der Werke. Der mittlerweile 86-jährige Amerikaner mit der Persol-Sonnenbrille spricht mit nicht mitgealtertem Enthusiasmus über die Freude am Entwerfen von urbanen Zukünften und von seiner Passion für Gouache. Seit 60 Jahren arbeite er mit dem Farbmittel und genieße seine flächigen, deckenden Eigenschaften bis heute. Zunächst ist es natürlich auch der schiere Detailreichtum in Meads Bildern, der umstandslos begeistert. Den gibt es aber nicht nur auf der Ebene malerischer Brillanz, dem haargenauen Anreichern von technischen Details mit immer noch kleineren Geometrien, sondern auch in den atmosphärischen Weltenkonstruktionen, überwuchert von Stahlkörpern, Schächten, Rohren und Utensilien. Deren Funktionen lassen sich nur erahnen, aber es besteht kein Zweifel, dass sie welche haben.

Der von dem italienischen Dichter Filippo Tommaso Marinetti 1909 proklamierte Futurismus trug klar kriegsverherrlichende, frauenverachtende und militaristische Züge. In dessen Manifest heißt es aber auch: »Wir erklären, dass sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: Die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen ... ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake.« Das zumindest nimmt Mead wörtlich. Erst recht die »vibrierende Glut der Arsenale und Werften, die von grellen elektrischen Monden erleuchtet werden; die gefräßigen Bahnhöfe, die rauchende Schlangen verzehren ...« - weiter muss man nicht nach einer nahezu passgenauen Beschreibung des Werks von Syd Mead suchen. Dass er sich also als »visueller Futurist« bezeichnen lässt, mag etwas aufgeblasen klingen, trifft vor diesem historischen Hintergrund aber den Nagel auf den Kopf.

Die Dimensionen des Los Angeles in »Blade Runner« entwarf er eigenen Angaben nach entlang der Vorstellung, das moderne New York mit drei zu multiplizieren. Das filmische Ergebnis ist, dass die Stadt jederzeit über ihre Bewohner zu dominieren scheint. Nicht zuletzt auch, weil Meads Hochhausarchitekturen Stahlkolosse sind, die nahezu fensterlos und dicht aneinandergedrängt alles unter sich begraben. Auch hier: Dystopie. Nebel, Blitzeinschläge, kreisende Helikopter.

»Die Stadtvision stammt vielleicht aus einer Zukunft, kann aber auch eine parallele Welt sein, die aus einem verschobenen Verlauf der Geschichte Gegenwart ist«, schreibt Markus Penell in einem Statement zur Ausstellung, »Das Gleisdreieck in Berlin könnte ein Stück Stadt werden, das in kleinem Maßstab etwas von dieser Vision wird. Wesentliche Teile sind im Film vorweggenommen: das scharfe Spiel des Lichts, die permanente Bewegung in mehreren Elementen, der Mix von bekannten Oberflächen und Glasuren.« Es ist schön zu sehen, wenn sich architektonische Projekte dieser Größenordnung so nahe an künstlerische Vorbilder anschmiegen. Ob dieser Spagat aber nachher als Zerrung schmerzt, lässt sich erst morgen beantworten.

»Syd Mead - Future Cities. Ein exklusiver Blick in die kreative Welt eines der großen Futuristen unserer Zeit«, bis 16.1.2020 in der Galerie O & O Depot, Leibnizstr. 60, Berlin-Charlottenburg.

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