Niedrige Erwartungen erfüllt

Sieg nach Punkten für Jeremy Corbyn beim Fernsehduell in Großbritannien

  • Ian King, London
  • Lesedauer: 3 Min.

Das Fernsehduell zwischen dem Premier Boris Johnson und dem Oppositionschef Jeremy Corbyn bei ITV in Salford barg keine großen Überraschungen: Keinen K.-o.-Schlag, Jeremy Corbyn siegte nach Punkten. Vor allem, weil die Erwartungen an seinem Auftritt so niedrig waren. Der Labour-Führer ließ sich vom oft schwafelnden, sich in der Brexit-Frage wiederholenden Premier Boris Johnson nicht provozieren und bekam für seine klare Ablehnung von weiteren Privatisierungsplänen im Gesundheitsbereich den lautesten Beifall der Zuschauer. Johnson überzog seine Zeit, musste von der Moderatorin Julie Etchingham mehrmals zur Ordung gerufen werden, weil er seiner Tendenz zum angeben nicht widerstehen konnte. Dass der Wortwechsel jedoch am Ausgang der Wahl vom 12. Dezember viel ändern wird, ist zu bezweifeln.

Denn die Umfragen zeigen für Johnsons Konservative ein durchgehend positives Bild. Die Tories genießen einen Vorsprung von zehn bis 17 Prozentpunkten. Die Liberalen als Anhänger des EU-Verbleibs können Labours Angebot einer zweiten Volksabstimmung durch größere Klarheit ausstechen. Denn die Frage »Wenn es zu einem zweiten Referendum kommt, werden Sie für neue Austrittsbedingungen oder für den EU-Verbleib stimmen?« kann Corbyn naturgemäß nicht beantworten, weil er diese Bedingungen nicht kennt. Das rieb ihm Johnson im Duell genüsslich unter die Nase. Labours potenziell populäre Vergesellschaftungspolitik, darunter das Angebot von kostenlosem Breitband-Internet für alle, hat das Steuer nicht herumgerissen. Labour hat auch regionale Probleme. In Schottland ziehen die siegessicheren Nationalisten von Nicola Sturgeons Scottish National Party (SNP) sowohl Labour als auch den Tories Stimmen ab, aber ohne die Traditionswahlkreise der Labourpartei nördlich des Tweed gibt es für Corbyn garantiert keine Mehrheit. Und in bisherigen linken Hochburgen in Nord- und Mittelengland sowie in Süd-Wales droht die Partei von Tories, Brexit-Anhängern und von Corbyn Enttäuschten zerrieben zu werden.

Aber Johnson lügt wie gedruckt: Aus den 40 von ihm versprochenen neuen Krankenhäusern wurden bei näherer Betrachtung ganze sechs. Die zu erwartenden verdreifachten Arzneimittelkosten nach einem von Johnson bevorzugten Freihandelsabkommen mit seinem Freund Donald Trump würden den im Volk beliebten, aber von den Tories klamm gehaltenen Nationalen Gesundheitsdienst in Richtung Pleite treiben.

Johnsons angekündigte 20 000 neue Polizisten, sofern sie überhaupt zu rekrutieren sind, würden nur die Zahl der Ordnungshüter vor der Tory-Austeritätspolitik ab 2010 wiederherstellen; ein Plan, die Streckenstilllegungen der Bahn in den 1960er Jahren rückgängig zu machen, wird Makulatur bleiben. Wie das alles zu finanzieren ist, bleibt Johnsons Rätsel - die Tories haben den magischen Geldbaum, dessen Existenz Johnson-Vorgängerin Theresa May hartnäckig geleugnet hat, wohl in einem Garten der Downing Street entdeckt. Nach dem vom Premier geplanten EU-Austritt Ende Januar 2020 wird die Pflanze rasch verdorren.

Aufgrund des Mehrheitswahlrechts hat nur eine der kleinen Parteien gute Chancen: die regional gut konzentrierte SNP. Die Liberaldemokraten werden Labour Stimmen abjagen, könnten aber froh sein, von gegenwärtigen 19 auf 30 Mandate zu kommen. Die Brexit-Partei von Nigel Farage ist auf dem absteigenden Ast. Die Grünen bieten mit der Brighton-Abgeordneten Caroline Lucas eine kluge Umweltschützerin und angesichts der nordenglischen Hochwasserkatastrophe die beste Klimapolitik, werden aber, anders als in Deutschland, höchstens eine Handvoll Direktmandate gewinnen.

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