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Eine andere Welt

Ein Besuch per Buch auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin

  • Monika Melchert
  • Lesedauer: 4 Min.

Welch ein Verhältnis haben wir zum Tod? Ein ehrfurchtsvolles, stilles, eher banges? In jedem Fall in sehr verhaltenes, generell anderes als die Menschen in Mexiko, Neuseeland oder Madagaskar, wo zur Feier des Totengedenkens gesungen und getanzt wird, laut und freudig.

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Martin Ernerth/Jörg Kuhn (Hg.): Der Dorotheenstädtische Friedhof. Prominente Geschichte in der Mitte Berlins. vbb, 184 S., geb., m. 194 Abb., 20 €.

In unseren Breiten dagegen gehen wir meist dunkel gekleidet und mit verhaltener Stimme auf Friedhöfe. Max Frisch hat gar in seinen »Entwürfen zu einem dritten Tagebuch« notiert, Grabsteine seien eine Erfindung, um den Toten zu sagen: »dort liegst du, besuche uns nicht in der Gegenwart, bleibe dort!« Wie auch immer, Friedhöfe laden ein zu Spaziergängen und zu kulturhistorischen Begegnungen. Friedhöfe sind, wie Parks, ein Ort der Ruhe und Besinnung, der Nachdenklichkeit. Sie sind ein Teil unseres Alltags und zugleich unserer Geschichte.

Der Dorotheenstädtische Friedhof in der Mitte Berlins, Chausseestraße, besteht seit mehr als 250 Jahren und ist ein wahrer Anziehungspunkt für Tausende Besucher jährlich, auch unabhängig vom Totengedenken. Ein aufwendig gestalteter Bild-Text-Band aus dem Verlag für Berlin-Brandenburg lädt ein, sich mit diesem Ort näher zu beschäftigen. Und schnell zeigt sich, dass die Geschichte der Dorotheenstädtischen Gemeinde und ihres Friedhofs ein anschauliches Stück Berliner Geschichte erzählt.

Wenn man aus dem lauten, trubeligen Zentrum Berlins plötzlich in die schattige, parkartige Anlage tritt, öffnet sich eine andere Welt. Man ist an einem würdigen Ort der Toten, an dem die Historie der Stadt lebendig geblieben ist. Denn er birgt die Gräber zahlreicher bekannter Persönlichkeiten, darunter Künstler, Schriftsteller, Wissenschaftler, Widerstandskämpfer: Auf den schmalen Wegen zwischen den Gräberreihen entdeckt man Hegel und Fichte, Schinkel und Schadow, Brecht und Helene Weigel, Anna Seghers und Hans Mayer, Heinrich Mann und Johannes R. Becher, Arnold Zweig und Wolfgang Langhoff, Heiner Müller und Christa Wolf, Inge Keller oder Gisela May, Günter Gaus und George Tabori, Otto Sander, Willy A. Kleinau, Herbert Marcuse und Rudolf Bahro, Jürgen Kuczynski, Bernhard Minetti, Egon Bahr, Johannes Rau und viele andere.

Stimmungsvolle Fotografien führen zu den Lebensgeschichten einzelner hier ruhender Persönlichkeiten. So erzählt die Grabstätte des Schauspielers Wolf Kaiser (1916-1992) mit Reliefs nach Entwürfen von Fritz Cremer - Szenen aus der »Dreigroschenoper« - auch die tragische Geschichte seines Todes.

Zunächst aber gibt der Band einen Überblick über die Historie der Dorotheenstadt und ihrer Gemeinde, deren Geschichte ins 17. Jahrhundert zurückreicht. Begonnen hatte es mit dem Bau der barocken Kirche, eingeweiht 1687, die jedoch Mitte des 19. Jahrhunderts abgetragen wurde.

Eine Besonderheit der Dorotheenstadt ist die Ansiedlung zahlreicher hugenottischer Flüchtlinge, die - wegen ihrer religiösen Zugehörigkeit aus dem katholischen Frankreich vertrieben - Aufnahme im liberalen Brandenburg-Preußen fanden. Sogar der erste Bürgermeister dieses Stadtviertels war ein Hugenotte. So hatte dieser Ort mitten in Berlin schon vor über 300 Jahren eine exponierte politische Bedeutung.

Der ältere Teil des Friedhofs ist ein wahres Kleinod mit kunsthistorischen und architektonischen Schönheiten. Angesehene und wohlhabende Bürger, Politiker, Wissenschaftler oder Kaufleute, ließen sich hier bestatten: Man wollte präsent sein. Bereits 1866 galt der Friedhof als voll belegt und wurde 1869 offiziell geschlossen.

1920 wurde er allerdings wiedereröffnet. Im Zweiten Weltkrieg von Zerstörungen hart betroffen, war die Dorotheenstädtische Gemeinde in der Nachkriegszeit sehr verkleinert. So schloss sie sich mit der benachbarten Friedrichwerderschen Gemeinde zusammen, da sie ohnehin über den gemeinsamen Friedhof verbunden waren.

In einzelnen Kapiteln werden von mehreren Autoren, die sich seit Jahrzehnten mit der Geschichte der Dorotheenstädtischen Gemeinde beschäftigen oder deren Architekturbüro die Sanierung und Restaurierung betreut, die Entstehung der Gemeinde, das Auf und Ab der Friedhofsgeschichte und vor allem ihrer Kunstdenkmäler vorgestellt. Unverzichtbar auch der Anhang mit einem Register und Lageplan prominenter Gräber.

Dokumentiert wird die originalgetreue Restaurierung besonders schöner alter Grabmale, zum Beispiel jener der Bildhauer Johann Gottfried Schadow und Christian Daniel Rauch, die durch Zeit und Wetter arg gelitten hatten.

Klaus von Dohnanyi erinnert in einem eigenen Beitrag an die Schicksale der Widerstandskämpfer gegen den Naziterror, derer in einer Gedenkanlage für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft gedacht wird. Für seinen Vater Hans von Dohnanyi und seinen Onkel Dietrich Bonhoeffer jedoch, beide in den Konzentrationslagern ermordet, gibt es kein Grab. An sie erinnert hier ein schlichter Gedenkstein.

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