nd-aktuell.de / 13.12.2019 / OXI

»Danach konnte ich nicht mehr wegsehen«

Ums Kümmern kümmern: Wie die National Domestic Workers Alliance in den USA für die Rechte von zwei Millionen Hausangestellten kämpft

Sigrun Matthiessen

Drei bezahlte Urlaubstage pro Jahr, einen freien Tag nach sechs Arbeitstagen, eine 44-Stunden-Woche und Überstundenentgelt. Für solche nach 19. Jahrhundert klingenden Minimalforderungen würde wohl kein Vertreter einer DGB-Gewerkschaft morgens das Bett verlassen. Doch als in den USA im vergangenen Juni zwei demokratische Abgeordnete einen Gesetzesentwurf für derartige Arbeits-Grundrechte ins Parlament einbrachten, war das ein bemerkenswerter Durchbruch.

Denn für die rund zwei Millionen Hausangestellten der USA existieren bisher keine bundesweit geltenden Beschäftigten-Schutzrechte, wie sie in anderen Branchen immerhin seit 1935 gelten. Hausangestellte und Arbeiter in der Landwirtschaft wurden von den damals beschlossenen Regelungen des »Social Security Act« und »National Labor Relations Act« ausdrücklich ausgenommen. Es waren vor allem die weißen Abgeordneten aus den Südstaaten, die im Parlament darauf bestanden, dass diese Gesetze erst ab einer Mindestzahl von 17 Angestellten gelten würden, also nicht für ihr eigenes afroamerikanisches Hauspersonal.

Aktivistinnen wie Dorothy Lee Bolden erkämpften im Zuge der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den 1970er Jahren, dass gesetzlicher Mindestlohn und Arbeitslosenversicherung auch für Hausangestellte gelten – jedenfalls für die knapp 10 Prozent, die heute überhaupt mit Vertrag arbeiten.

Einen Schutz gegen Diskriminierung und sexuelle Belästigung gibt es nur in den elf Bundesstaaten, die seit 2010 eine »Domestic Workers’ Bill of Rights« verabschiedet haben, unter ihnen immerhin New York und Kalifornien, wo ein Großteil der Hausangestellten zu finden ist. Diese Gesetzesinitiativen sind, wie das jetzt eingebrachte Bundesgesetz, das Verdienst der National Domestic Workers Alliance, ein Zusammenschluss, der nach deutschem Verständnis irgendwo zwischen Gewerkschaft, Lobbyorganisation und Selbsthilfe-Netzwerk anzusiedeln ist. Durch Bündnisse mit über 60 lokalen Gruppen ist die 2007 gegründete Organisation mittlerweile in 38 Städten vertreten, bundesweit sind ihr über zehntausend in Privathaushalten Beschäftigte beigetreten.

Ai-jen Poo, Mitbegründerin und Vorsitzende, begann ihre Arbeit vor 20 Jahren als Aktivistin bei einer Bürgerrechtsorganisation asiatischer Amerikanerinnen in New York. Dabei kam sie in Kontakt mit philippinischen Kindermädchen und erfuhr, welchen Übergriffen und welchem Maß an Ausbeutung sie ausgesetzt waren. »Danach konnte ich nicht mehr wegsehen«, sagt Ai-jen Poo in einem Porträt des »New York Times Magazine« vom Februar dieses Jahres. »Diese Arbeiterinnen, fast alle Frauen, fast alle Migrantinnen, waren für das Gesetz, für die Gewerkschaften und oft auch für ihre Arbeitgeber gleichermaßen unsichtbar«.

Ai-jen Poo begann, einmal pro Woche jene Orte abzuklappern, an denen Kindermädchen und Hausangestellte im New Yorker Stadtbild sichtbar werden: Pendlerbahnhöfe, Spielplätze und die Kinderabteilungen der großen Buchhandlungen. Dort kam sie mit ihnen ins Gespräch, verteilte Flugblätter und lud sie zu Versammlungen ein. Mobilisierungsarbeit, die sich herumsprach und 2002 zu einem Treffen führte, bei dem 200 Frauen aus den unterschiedlichsten ethnischen Communities mit Hilfe von Simultanübersetzung ihre Kernforderungen für das erste »Hausangestelltengesetz« erarbeiteten.

Es sollte weitere acht Jahre dauern, bis das Parlament des Bundesstaates New York diese »Domestic Workers’ Bill of Rights« schließlich verabschiedete. Während der Sitzungsperioden fuhren die Aktivistinnen teilweise wöchentlich aus NYC zum Parlamentssitz nach Albany. Einige Mitstreiterinnen von Ai-jen Poo sind überzeugt, die Parlamentarier hätten ihren Forderungen vor allem nachgegeben, um sie endlich loszuwerden.

Menschen dort abholen, wo sie sind, auf ihre individuell unterschiedlichen kulturellen, materiellen und rechtlichen Situationen eingehen und dennoch dafür sorgen, dass sie gemeinsame Forderungen entwickeln und solidarisch für deren Durchsetzung kämpfen: Diese anstrengende Basisarbeit wird unter dem englischen Begriff Organizing seit einigen Jahren auch bei der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi und in anderen DGB-Gewerkschaften wieder diskutiert. In der Logistik- oder Baubranche wird sie vereinzelt auch schon in die Tat umgesetzt.

Putzfrauen, Kindermädchen und Altenpflegerinnen allerdings, die in privaten Haushalten arbeiten und nicht bei großen Unternehmen angestellt sind, kommen in der deutschen Gewerkschaftslogik bis heute nicht vor. Die US-Aktivistinnen dagegen arbeiten mittlerweile seit 20 Jahren mit diesen Care-Arbeiterinnen. Von Anfang an war ihnen klar, dass sich diese vielfältige Frauenschaft nicht nach den ordentlichen Regeln von Gewerkschaftsarbeit in beispielsweise einer Ford-Fabrik organisieren lässt: Neben klassischen Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen sind Rassismus, Sexismus, Betreuung der eigenen Kinder mindestens ebenso wichtige Themen.

Dazu kommen spezifische Probleme in den jeweiligen Migranten-Communitys: »Jede zweite schwarze Frau hat ein Familienmitglied, das im Gefängnis sitzt, und das sie finanziell unterstützen muss«, gibt Alicia Garza in einem Interview ein Beispiel. Die Mitgründerin der Black-Lives-Matter-Bewegung ist seit kurzem bei der NDWA zuständig für Sonderprojekte und strategische Partnerschaften mit Organisationen, die sich für Immigranten und gegen Rassismus engagieren.

Bei aller Basisarbeit mit den unterschiedlichen Frauen ging es den NDWA-Aktivistinnen schon früh darum, dass all diese individuellen Erfahrung zusammen auf ein großes gesellschaftliches Problem verweisen: die fehlende Anerkennung von all dem, was wir inzwischen Sorgearbeit nennen. Diese jahrhundertealte Ignoranz trifft diejenigen, die mit Kümmern ihr Geld verdienen, genauso wie ihre »Arbeitgeberinnen«, die nun plötzlich für etwas zahlen sollen, das nie als Arbeit anerkannt, geschweige denn eingepreist wurde. Genauso geht es all diejenigen an, um die sich gekümmert wird: Kranke, Alte, Kinder, Vielbeschäftigte, die keine Zeit haben für Einkaufen, Kochen, Putzen.

Diese viel zu alte Lebenslüge der sogenannten Marktwirtschaft endlich zu ändern, dafür kämpft die Organisation mit allen Mitteln auf unterschiedlichsten Ebenen. Wer privat eine Haushaltshilfe, eine Pflegerin oder ein Kindermädchen beschäftigt, die häufig auch unter demselben Dach wohnt, bekommt einen Mustervertrag und praktische Tipps und Schulungen, wie auch in der zwangsläufigen Intimität eines solchen Arbeitsverhältnisses Respekt und notwendige Grenzen gewahrt werden. Die Beschäftigten werden über ihre Rechte aufgeklärt, auf Beschwerdestellen und juristische Unterstützung hingewiesen. Damit verbessern sich konkrete Arbeitsbedingungen und gleichzeitig wird das Bewusstsein für den Wert der im Privaten verrichteten Arbeit erhöht.

Es war die NDWA, die 2012 die erste umfassende Studie zu den Arbeitsbedingungen von Beschäftigten in Privathaushalten in Auftrag gab. Bei Streiks und Protestaktionen mobilisieren die Aktivistinnen gezielt auch Arbeitgeberinnen. Am Gesetzestext der jetzt in den Kongress eingebrachten »Federal Domestic Workers’ Bill of Rights« war die Organisation maßgeblich beteiligt und der von Ai-jen Poo 2011 mitgegründete Thinktank »Caring Across Generations« hat die Grundlagen für ein umfassendes neues Sozialversicherungskonzept mit dem Namen »Universal Family Care« erarbeitet. Es wäre das weltweit erste System, das den Bedürfnissen von bezahlten Sorgearbeiterinnen ebenso Rechnung trägt wie Ehrenamtlichen und denjenigen, die diese Tätigkeiten in Anspruch nehmen (siehe Interview).

Ausdrücklich werden die Mitglieder ermutigt, in ihren Communitys und darüber hinaus politisch aktiv zu werden. Ai-jen Poo, die Aktivistin, die vor 20 Jahren Spielplätze ablief, ist mittlerweile mit diversen Ehrungen für einflussreiche Frauen ausgezeichnet worden, wird auch schon mal als zukünftige Arbeitsministerin der Demokraten gehandelt und war bei der Verleihung der Golden Globes 2018 die Begleiterin von Meryl Streep auf dem roten Teppich. Die Schauspielerin wies auf Ähnlichkeiten von Machtmissbrauch und ausbeuterischen Strukturen in der Filmbranche und bei den Hausangestellten hin und rief dazu auf, sich mit deren Forderungen zu solidarisieren.

Die NDWA-Gründerin spricht mittlerweile in Interviews davon, dass es gute Zeiten seien für die Anliegen ihrer Organisation, denn im Jahr 2030 werden Care-Arbeiterinnen den größten Teil der Arbeitnehmerschaft in den USA stellen. Außerdem habe sich in den letzten zehn Jahren gezeigt, dass vieles, wogegen in anderen Branchen erst jetzt aufbegehrt wird, für Hausangestellten schon lange Teil ihres Arbeitskampfes war: unklare Arbeitszeiten, permanente Verfügbarkeit, sexuelle Belästigung, die Zunahme von Kleinst-Aufträgen, die über Online-Plattformen vermittelt werden. Unzufriedene prekär Beschäftigte im Silicon Valley wie in Hollywood können also von ihren Putzfrauen und Kindermädchen noch einiges lernen – und wer weiß, vielleicht ja auch Gewerkschaftssekretäre im DGB?