Wo ist die Neue Heimat?

sieben tage, sieben nächte über die Sehnsucht nach Emotionen

  • Stephan Fischer
  • Lesedauer: 3 Min.

»Heimat« - sie ist längst zum Kampfbegriff geworden. Als reaktionär bis gewalttätig exkludierend von der einen Seite verschmäht, als Reaktion auf Verunsicherung auch durch Moderne und Postmoderne bis hin zu gewalttätiger Exklusion von der anderen Seite propagiert. Und als Neue Heimat jetzt schon zum zweiten Mal durchgefallen: als Bauskandal in den 1980ern, als Bewerbung Dresdens zur Europäischen Kulturhauptstadt 2025 unter ebenjenem Titel. Mit Heimat allein scheint kein Staat mehr zu machen im 21. Jahrhundert.

Dabei ist die Sehnsucht nach Heimat ungebrochen. Mehr als emotionaler Anker und geistige Gewissheit denn als Ort, als nicht hinterfragensnötige Gewissheit. Umso mehr, als gesellschaftliche Entwicklungen hin zu immer mehr Individualität als Nebenprodukt immer mehr Vereinzelung und Einsamkeiten produzieren. Mehr Mobilität bedeutet aber am Ende auch, dass es immer weniger Orte in den Biografien gibt, an denen man sich wie selbstverständlich hingehörig fühlt. Wenn Familien über Kontinente verstreut sind, gibt es auch keine Mitte mehr, in der man sich treffen könnte: Im Zweifel liegt die mitten im Ozean.

Das fühlt sich alles nicht gut an. Individuell und massenhaft. Erst einmal nur, was den Befund angeht: »45 Prozent der weltweit befragten Erwachsenen sagen, dass sie sich zumindest gelegentlich einsam fühlen ...« Noch mehr, wenn es um die daraus gezogene Schlussfolgerung geht. Handelt es sich beim vorherigen Zitat doch um eine Studie des Unternehmens Ford: »... was eine Chance für Unternehmen und Marken darstellt, bei Kunden ein Gefühl von Bindung zu erzeugen«. Die Formulierung lässt aufhorchen: Wohlweislich geht es nicht um Bindung als solche - wie sollte die sich auch anders als in schnöden Kauf- und Bezahlvorgängen darstellen - nein, es geht um das »Gefühl von Bindung«. Vor den kalten, rationalen Vorgang muss der emotionale Schleier, sonst hält man das aufgrund ebenjener kalten Rationalität und der letztendlichen Sinnlosigkeit des Daseins ohne Transzendenz ja gar nicht aus.

Die gelegentlichen Gefühle der Einsamkeit haben gerade zur Weihnachtszeit ausgiebig Gelegenheit zum Ausbruch. Und zwar unterstützt durch genau jene Mittel, die doch gerade jenen emotionalen Schleier vors Bewusstsein fallen lassen sollen - der Kater kann nach Glühwein ebenso heftig sein wie ein kurzer Moment des Innehaltens und der Betrachtung des weihnachtlichen Konsumwahnsinns und des ausgiebigen Auslebens des »Gefühls von Bindung« zu Unternehmen und Marken, das am Ende eben nicht mehr als ein schnöder Bezahlvorgang ist. Das Schöne ist: Natürlich gibt es neue Heimaten auch ohne Kampfbegrifflichkeit. Und lässt man die Exklusion und die Marken und Unternehmen raus, dann fühlt sich die sogar gut an. Ganz ohne emotionalen Schleier.

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