nd-aktuell.de / 21.12.2019 / Kultur / Seite 9

Außerplanetarische Opposition

Gegen deutschen Patriotismus auf dem Mars: Das erste Buch von Knarf Rellöm.

Christof Meueler

Die AfD wächst und wächst, und meistens heißt es in den Medien: Ist doch ganz normal. Oder wie es Knarf Rellöm formuliert: «Wir müssen die Vergangenheit endlich Hitler uns lassen.» Das ist das Dogma der Bundesrepublik seit ihrer Gründung – und der Titel von Rellöms neuem Buch, in dem der Hamburger Popmusiker viele seiner Songtexte aus den letzten drei Jahrzehnten versammelt hat.

Wer die Songs schon kennt, der hört sie sofort wieder, wenn er ihre Lyrics liest. Denn diese sind einprägsam in Form wie Inhalt. Wie zum Beispiel dieses Lied: «Arme kleine Deutsche / haben keine Rechte. / Arme kleine Deutsche / werden überall verfolgt. / Arme kleine Deutsche / die ganze Welt / Arme kleine Deutsche / ist gegen sie. / (…) Arme kleine Deutsche / dürfen nicht mehr sagen, / was sie denken.» Veröffentlicht 2006, ist es ein prophetisches Stück Polit-Popgeschichte. Damals gab es noch keine AfD, nur die Fußball-WM «im eigenen Land» mit Meeren von Deutschlandfahnen, angeblich völlig harmlos und verspielt. Deshalb gibt es in dem Lied auch einen hörspielartigen Einschub. Mitten im Lied klingelt ein Telefon:

-«Ja, hier Knarf!
-»Ja. Ich wollt mal sagen: Seit der Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land haben wir Deutschen endlich wieder ein unverkrampftes Verhältnis zu unserem Vaterland und zum Patriotismus.«
-»Ich fand die Verkrampfung besser.«
-»Aber das ist doch nicht normal, verkrampft zu sein!«
-»Patriotismus ist normal?«

Besonders die deutsche Geschichte soll »unverkrampft« betrachtet werden. Weil der Faschismus schon so lange her sei, spiele er keine Rolle mehr – das war das Standardargument der Konservativen und Rechten (lange Zeit wurden diese Begriffe synonym gebraucht). »Patriotismus« war schon immer ihr Kampfbegriff gegen den Internationalismus der 68er-Bewegung. Die fragte sich: Warum soll man bitteschön stolz sein auf das Land, in dem man zufällig geboren wurde? Und wenn außerdem in Italien das Essen besser schmeckt und in Frankreich der Rotwein? So fing einmal linkes Bewusstsein an.

Und bei der Fußball-WM 2006 wurde Patriotismus populär, allgemein abgefeiert als »Party-Patriotismus«. In der »jungen Welt« freute sich Jürgen Elsässer: »Die WM 2006 ist bisher eine einzige Party, und obwohl die deutschen Städte so intensiv geflaggt sind wie zuletzt 1943, zeigen sich die Landsleute von ihrer freundlichsten Seite. Schwarz-rot-gold gibt es nämlich mittlerweile, anders als schwarz-weiß-rot und den Nazi-Lumpen, nicht nur an Fahnenmasten und Hauswänden, sondern auch als Miniröcke, Hawaiigirlanden, Irokesenschnitt und Bratwurst-Serviette.« Peinlich, aber amüsant, haha. Heute gibt Elsässer ein rechtsradikales Magazin heraus. Das einzig Neue an der sogenannten Neuen Rechten ist, dass sie mittlerweile fast so stark ist wie die CDU. Was ist daran normal?

Auch in der Kulturindustrie ist jede Form der Verkrampfung verpönt. Es soll stets lustig zugehen, mindestens ironisch. Das führt zu skurrilen Momenten, die Knarf Rellöm in seinem Buch festgehalten hat, etwa wenn er einen Open-Air-Auftritt der Band Die Ärzte beschreibt: »Sie singen Lieder gegen Vokuhilas, die sich Vokuhilas anhören und mitsingen. Sie nehmen ihre eigene Musik keinen Deut ernst, nirgendwo lassen sie sie wirken.« Rellöm hat einen anderen Anspruch. 2004, auf dem Album »Einbildung ist auch ’ne Bildung«, sang er: »Ich will dazugehören, mich einmischen, in Leben, Politik, Scheiße und Psychologie!«

Deshalb erklärte er dem Songwriter Tom Liwa, der ihn einlud, bei einer von ihm zusammengestellten Compilation mitzuwirken, in einem Lied, »warum ›Paradies der Ungeliebten‹ ein Scheißtitel ist«. Der sei viel zu lahm und selbstgerecht: »Verzweiflung ja, Selbstmitleid nein.« In einem anderen Stück riet Rellöm Linken ab vom beliebten Reim »Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten«, weil damit auch die NPD schon zu Demonstrationen aufgerufen hat. Und doch braucht Rellöm in dem Stück diesen Reim für einen Refrain, und der geht so: »Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten. / Wer verrät uns nie? Sexualdemokratie.« Letzteres habe der linksradikale bayerische Schriftsteller Oskar Maria Graf gerne auf seinen Partys in den 1920er Jahren gerufen, »zur Hebung der Stimmung«.

Solche inhaltlichen Fragen diskutiert Rellöm direkt in seinen Liedern, nicht etwa in den Linernotes auf dem Cover seiner Alben. Die politischen und künstlerischen Probleme will er transparent machen. Und überhaupt mit seinem Publikum kommunizieren, weshalb er es bei seinen Konzerten in Dialoge verwickelt, die funky sind. Denn während viele der Untergrund-Bands, die in den 90er Jahren in Hamburg angefangen haben, eine krasse, kritische Musik gegen das Bestehende zu spielen, was »Hamburger Schule« genannt wurde, im leeren, lahmen Deutschrock endeten, wollte Rellöm nicht auf Politik, Fantasie und Glamour verzichten.

Hatte er in den 90er Jahren erst mit der Band Huah! Sixties-Schunkel-Beat gemacht und dann als Solokünstler viel Bob-Dylan-Studien betrieben, wechselte er nach der Jahrtausendwende in die Funk- und House-Forschung. Die Musik darf niemals aufhören, wie James Brown es einst befohlen hat, aber das Denken ebenso wenig! Rellöms Lieder wurden länger, wilder und freier. Das war sein »heavy heavy No-Deutschland-Sound«, in Abgrenzung zum langweiligen Deutschrock einerseits und in Abgrenzung zur politischen Reaktion andererseits.

Er orientierte sich an den Konzerten und an den Kosmologien der großen US-Afrofuturismus-Künstler George Clinton (Funk) und Sun Ra (Jazz) und kritisierte die politische Tristesse der Bundesrepublik aus der Perspektive einer »Außerplanetarischen Opposition«. Das war zugleich lustig und ernst gemeint, weil hierzulande keine linke außerparlamentarische Opposition wie in den später 60er Jahren erkennbar ist, um die »versteinerten Verhältnisse« zum Tanzen zu zwingen, wie es Karl Marx gefordert hatte.

Der Science-Fiction-Blick auf die irdischen Probleme ist in der linken Literatur von Ursula K. Le Guin bis Dietmar Dath beliebt und produktiv. Als würde im Weltall mit den Widersprüchen besser umgegangen. Auf dem Mars beispielsweise sei seine Musik, die auf der Erde von viel zu wenig Menschen gehört wird, in den Charts, behauptet Rellöm. Aber er bleibt als »umherschweifender Produzent« auf der Erde. Sein Buch soll ein »Ideen-Container« sein: »Ich bitte darum, dass mit diesen Ideen gearbeitet wird«, schreibt er. Denn sie sind wichtig. Auf seinem letzten Album »Es ist die Wahrheit, obwohl es nie passierte« (2015) erzählt er unter anderem die »Geschichte von Mark E. Smith und seiner Frage: Wer macht die Nazis?«

Knarf Rellöm: Wir müssen die Vergangenheit endlich Hitler uns lassen. Ventil-Verlag, 152 S., brosch., 15 €.