nd-aktuell.de / 04.01.2020 / Politik / Seite 17

Kunstrasenpflege

Velten Schäfer erteilt eine Lektion in Sachen Bewegungsfälschung

Velten Schäfer

Graswurzeln sind ein Zauberwort. Nicht nur im Garten, wo jene einkeimblättrigen, krautigen Pflanzen mit langen, schmalen Blättern, die man Gras oder Rasen nennt, oft gegenüber Grünzeug ins Hintertreffen geraten, das man dort nicht gerne sieht. Sondern auch in der Politik, wo der Ausdruck »Graswurzelbewegung« im Alternativwesen der 1970er Verbreitung fand und unverstellte Artikulation von Basisinteressen bezeichnet, das Authentische schlechthin.

Kunstrasen dagegen hat einen üblen Ruf. Nicht nur im Garten, wo diese Plastikstengelmatten die bedingungslose Kapitulation signalisieren - und nicht nur im Sport, wo man sie dafür fürchtet, eklige Schürfwunden hervorzurufen. Sondern wiederum auch in der Politik: Dort verzeichnen Nachschlagewerke den Namen einer führenden Kunstrasenmarke als Synonym für die Taktik, den »Anschein einer unabhängigen öffentlichen Meinungsäußerung über Politiker, politische Gruppen, Produkte, Dienstleistungen, Ereignisse und Ähnliches« zu erwecken, wo tatsächlich eine gesteuerte Kampagne am Werk ist.

Man muss nun nicht das Gras wachsen hören, um dieses »Astroturfing« hierzulande aufzuspüren. In Berlin etwa formierte sich schon vor dem Jahreswechsel rund um höchst authentische »Initiativen« wie »Neue Wege für Berlin« oder »Mut statt Wut« der Volkszorn gegen den »Mietendeckel« - komplett mit Kundgebung vor dem Brandenburger Tor, gelben Westen, DDR-Vergleichen und dem Erderwärmungsargument: »Mietendeckel = Klimanotlage«!

Dieses Argument definiert geradezu solchen politischen Kunstrasen. Schließlich betrat diese Taktik mit dem Neoliberalismus die Bühne, dessen Spezialität es ja ist, die herrschende Agenda in progressiver Sprache zu verpacken. Erstmals von »Astroturfing« sprach 1985 Lloyd Bentsen, Senator der Demokraten für Texas: Als er eine Idee hatte, die der Versicherungsindustrie nicht passte, ertrank er plötzlich in ums Gemeinwohl besorgten »Bürgerzuschriften«.

Verbunden ist Astroturfing seither auch mit dem Mythos einer »kreativen« Generation von PR-Experten, die fortschrittliche Worte für rückschrittliche Dinge finden können, weil sie in der Graswurzeldekade womöglich mal ein Sit-in aus der Nähe gesehen hatten. Zumindest diesbezüglich ist nun der Berliner Kunstrasen tröstlich: Er ist dermaßen grob geknüpft, dass man jetzt schon weiß, wie viel jene Unterschriftensammler verdienen, die in den nächsten Wochen den Mietendeckel-Volkszorn simulieren und dokumentieren sollen. Solche Taktiken vertragen sich einfach nicht damit, ganz offen stadtbekannte Lobbyisten vorzuzeigen - oder per Onlineannonce bezahlte Protestierer zu suchen.

Ist der Neoliberalismus inzwischen generell so satt und faul, dass ihm sogar handwerklich saubere Konspiration zu anstrengend geworden ist? Es wäre zu hoffen. Vielleicht ist das aber auch nur so landestypisch wie die Unkrautphobie im Vorgartenwesen. Denn die Geschichte wiederholt sich bekanntlich - erst als Tragödie und dann in Deutschland.