»Ha! Habt ihr’s gesehen?!«

Der sich als weltläufig empfindende Deutsche schätzt internationale Spezialitäten. Allerdings nur, wenn diese »authentisch« zubereitet sind.

  • Heiko Werning
  • Lesedauer: 5 Min.

Im kollektiven Fundus an Meinungen und Überzeugungen der sich als weltläufig und progressiv empfindenden Deutschen ist eines ganz fest verankert: nämlich der unerschütterliche Glaube, dass Restaurants mit Spezialitäten anderer Länder immer nur eine irgendwie eingedeutschte, mithin also falsche Version der fremden Gerichte anbieten. Denn so ist er halt, der Ausländer: Irgendwie will er uns ja doch immer bescheißen, und sei es, dass er seine Pizzen nicht traditionsgemäß backt oder die Süßsauer-Soße verhunzt. Aber ihm, dem weltläufigen und progressiven Deutschen, kann man so schnell nichts vormachen, denn er weiß ja schließlich, was so abgeht da draußen. Und darin, dem Ausländer zu erklären, wie er sich als Ausländer zu verhalten hat, darin ist der Deutsche ja ohnehin Spitzenklasse.

Besonders gerne beklagen sich diese Deutschen etwa in mexikanischen oder anderen lateinamerikanischen Restaurants darüber, dass das Essen ja gar nicht ordentlich scharf sei, das sei doch wieder nur so eine verweichlichte, abgeschmackte, amerikanisierte, kommerzielle Sache, um das besser an die anderen Deutschen zu verkaufen - die der weltläufig-progressive Deutsche nämlich generell für provinziell-reaktionär hält und für so dumm, dass sie sich jeden Scheiß als exotisches Gericht andrehen lassen.

Viele Mexikaner in den Berliner Szenebezirken haben angesichts des fortwährenden Genörgels irgendwann kapituliert und bieten nun tatsächlich scharfe Gerichte an, und dann freut der weltläufige und progressive Deutsche sich, dass er endlich mal etwas bewirkt hat. Mit dem bizarren Resultat, dass es nun tatsächlich sozusagen eingedeutschtes scharfes Essen in Latino-Restaurants gibt. Denn in ganz Lateinamerika bekommt man so gut wie nie etwas Scharfes auf den Teller. Das Scharfe steht vielmehr neben dem Teller, ist rot oder grün und zähflüssig, und jeder Latino dosiert es nach eigenem Geschmack in sein Gericht hinein; meistens sehr vorsichtig, und er weiß auch, wieso.

Wenn so ein weltläufiger und progressiver Deutscher das zum Beispiel in Mexiko erstmals sieht, dann meint er, jetzt müsse er es den Mexikanern aber mal richtig zeigen, was für ein aufgeschlossener Typ und gleichzeitig harter Hund er ist, nicht so ein luschiger Provinzler, kein blöder Gringo, der nichts verträgt, nein! Er nimmt die Soße und löffelt sie ordentlich über das Essen, und noch einen Schlag und dann noch einen. Der mexikanische Wirt steht im Hintergrund, beobachtet alles interessiert, zieht vielleicht unauffällig ein wenig die Brauen hoch, aber er sagt nichts. Beifall heischend guckt der weltläufige und progressive Deutsche sich um - ha! Habt ihr’s gesehen?! Ich hab’s richtig ordentlich scharf gemacht!

Und dann gibt es eine sehr lustige Szene, die immer nach dem gleichen Schema verläuft:

Phase (1) Zunächst, nachdem der Deutsche sich die Gabel in den Mund geschoben hat, kurzes Erstarren, nur für den Bruchteil einer Sekunde.

Phase (2) Ein Moment des ungläubigen Retardierens. Die wenigen überlebenden Geschmacksnerven des Erstkontakts mit der kulinarischen Biowaffe melden höchste Alarmstufe, aber der Deutsche glaubt es nicht; man sieht geradezu, wie es in ihm arbeitet: »Das kann gar nicht sein. Ich mag scharfes Essen. Ich kann das ab. Ich bin nicht so ein weichlicher Gringo. Hier muss irgendein Missverständnis vorliegen. Am besten, ich ignorier das einfach und esse ganz normal weiter. Bloß nichts anmerken lassen.«

Phase (3) Die Kau-, Zungen- und Gesichtsmuskeln setzen sich wieder in Bewegung und nehmen ihre Arbeit auf, der Bissen wird weiter im Mund zerkleinert und dann - der nächste Fehler - hinuntergeschluckt.

Phase (4) Alle Systeme im Körper schlagen Alarm. Aber der Deutsche ist willensstark. Er verträgt scharf. Er mag scharf sogar total gern. Er nimmt eine zweite Gabel und führt sie zum Mund. Vielleicht sogar noch eine dritte und vierte.

Phase (5) Für alle Umstehenden sichtbar, treten dicke Schweißtropfen auf seine Stirn.

Phase (6) Der Mund wird geöffnet, mit kruppstählernem Willen wird Gabel um Gabel Millimeter um Millimeter Richtung Gaumen geführt; man sieht den aussichtslosen Kampf, den der Körper mit allen Mitteln dagegen führt, aber der Deutsche will sich keine Blöße geben; dieser Gedanke besiegt alles andere, kaum merklich langsamer als normal gelangen die Bissen in den Mund.

Phase (7) Die Kau- und Speichelbemühungen des Mundes werden sichtbar lahmer. Von außen betrachtet wirkt jetzt alles wie in Zeitlupe. Von innen würde man einen heftigen Kampf zwischen Willen, Glauben und den Signalen des Körpers, die noch Restkontakt zur Realität haben, beobachten können.

Phase (8) Ungesunde Gesichtsverfärbung, der Schweiß beginnt zu fließen, die Hände zittern.

Phase (9) Mühsame und langsame letzte Kau- und Zungenbewegungen.

Phase (10) Wille und Glauben kapitulieren. Jetzt endlich putscht der Körper und übernimmt die Alleinherrschaft.

Phase (11) Sofort brechen alle Dämme. Schnauben, Prusten, entweder panisches Runterschlucken oder Ausspucken des letzten Bissens in Hand oder Serviette.

Phase (12) Hektischer Griff zum Getränk. Trinken, trinken, trinken. Schlucken, schlucken, schlucken. Noch mehr trinken. Alles in allem: der nächste Fehler.

Phase (13) Ungläubiges Entsetzen.

Phase (14) Erster Gedanke daran, dass er das hier womöglich nicht überleben könnte. Aber immer noch keine Einsicht, denn:

Phase (15) Noch mehr trinken. Schlucken. Trinken. Schlucken.

Phase (16) Durch das Getränk ist die feindliche Substanz nun perfekt in Mund-, Rachen- und Kehlraum verteilt und kann ihre volle Wirkung entfalten. Nun ist nichts mehr zu retten.

Phase (17) Person flüchtet panikartig zu den Toiletten.

Phase (18) Unwürdige Geräusche von dort.

Phase (19) Die Mexikaner lachen sehr ausgelassen.

Phase (20) Noch zwei Tage danach wird der Deutsche bei jedem Stuhlgang, und er wird viele Stuhlgänge haben, eindringlich und schmerzhaft an seine Lektion erinnert, denn ihm brennt der Arsch, und zwar höllisch. Und beim Abputzen wird alles noch schlimmer.

Sie glauben mir nicht? Sie meinen, das sei übertrieben? Ist es nicht. Ich weiß das, denn ich war selbst mal so ein Idiot.

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