Grün schlägt Rot

Tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen haben zum politischen Farbwechsel beigetragen.

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 3 Min.

Ende September 1995 erschien in der längst untergegangenen »Die Woche« ein Text mit der Überschrift: »Grün schlägt Rot«. Es ging darin um Versuche von Joschka Fischer, die Grünen für Koalitionen mit der CDU vorzubereiten. In Mülheim an der Ruhr war ein Jahr zuvor das erste Bündnis dieser neuen Farbenlehre in einer Großstadt geschlossen worden. Nachwuchspolitiker beider Parteien begannen sich damals informell in einer Bonner Pizzeria zu treffen.

Als landespolitische Möglichkeit und bundespolitische Potenz war Schwarz-Grün trotzdem noch recht weit entfernt. Wichtiger war eigentlich auch ein aufs Allgemeinere zielender Hinweis in der Unterzeile des angesprochenen Beitrags: »SPD in der Krise - Politik im Umbruch«. Die Sozialdemokraten standen damals zwar noch bei weit über 30 Prozent, dass es künftig ungemütlicher werden würde, war vielen aber schon klar.

Oskar Lafontaine fegte damals Rudolf Scharping vom Parteivorsitz, sein »Zieht Euch warm an« auf dem Mannheimer Parteitag löste den letzten wirklich nennenswerten Aufschwung der SPD aus, einen, der in die Schröder-Regierung ab 1998 führte, die viel mit dem seitherigen Abstieg der Sozialdemokratie zu tun hat. Der lässt sich aber nicht allein aus den »Fehlern der Agenda-Politik« erklären. Es passierte schon länger im Hintergrund etwas Grundlegenderes - und darum drehte sich damals ein Buch, das ebenfalls den Titel »Grün schlägt Rot« trug.

1997 auf Deutsch erschienen, hatten die beiden US-Autoren Andrej S. Markovits und Philip S. Gorski darin unter anderem auf tief greifende Veränderungen in der sozialen, polit-mentalen Landschaft (Stichwort: Postmaterialismus) oder die wachsende Bedeutung eines »neuen (grünen)« Linksseins gegenüber dem »alten (roten)« hingewiesen. Letzteres werde, nicht zuletzt als Ausdruck von Veränderungen in der kapitalistischen Produktion und ihrer gesellschaftlichen Folgen, seine bis dato unangefochtene Hegemonie verlieren, lautete eine ihrer Prognosen.

Der Aufstieg der Grünen wird heute mehr denn je von einer planetaren Krise angetrieben: dem Klimawandel. Wo die »Ökologie der Existenz« (Thomas Seibert) in einem so umfassenden Sinne gefährdet ist, damit auch die Realisierungsmöglichkeiten »roter Politik«, bekommt der alte Titel noch eine zusätzliche Bedeutung: »Grün schlägt Rot« verweist auch auf eine Akzentverschiebung in der Tektonik linken Denkens hin: von der Betonung der Klassenfrage hin zur Betonung der Zivilisationsfrage.

Markovits und Gorski lagen 1997 noch ein bisschen daneben, als sie vorhersagten, »die Sozialdemokraten, denen der Wind politischer Veränderung besonders scharf ins Gesicht bläst«, würden die Wahlen 1998 verlieren. Dass sie aber, »was die anstehenden Diskussionen« über die Veränderungen der gesellschaftlichen Naturverhältnisse und die Folgen für eine Politik sozialer Integration angeht, »den Grünen hinterherhinken« würden, war schon richtig gesehen. Heute zeigt sich das Ergebnis in jeder Umfrage auf Bundesebene: »Grün schlägt Rot«.

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