nd-aktuell.de / 15.01.2020 / Kultur / Seite 9

Der Supercoup

Erinnerungen an die heiße Phase der MfS-Auflösung überdecken allzu leicht, was sonst noch so geschah

René Heilig

Zwei bis fünf Spieler sitzen an einem Tisch. Sie haben Karten vor sich, die das gerade auf den Markt gekommene Spiel gleich miterklären. Die Idee: Alle Mitspieler sind Agenten. Ihr Ziel: Dokumente aus dem Archiv des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) vernichten, bevor die DDR-Bürgerbewegung sie stoppen kann. Für jede vernichtete Akte gibt es Punkte. Sieger ist der, der am meisten Papier geschreddert hat. Sicher ist: Das MfS kann nicht gewinnen. Und mit der Realität vor 30 Jahren hat das Spiel wenig gemein. Obwohl oder gerade, weil es in enger Zusammenarbeit mit der Stasi-Unterlagen-Behörde (BStU) entstand, die ein 48-seitiges Begleitmaterial beisteuert.

Zu den Tatsachen. Es war der 15. Januar 1990. Die Öffnung der Mauer gut zwei Monate zuvor hatte den Zerfall der DDR beschleunigt. In Berlin-Niederschönhausen fand die inzwischen siebte Beratung am Runden Tisch statt. Die Regierung berichtete Bürgervertretern über den Stand der vereinbarten Geheimdienstauflösung. 30 000 hauptamtliche Mitarbeiter seien bereits entlassen worden, weitere 22 500, so wurde versichert, bereiteten sich auf die Übernahme neuer Aufgaben in der Wirtschaft oder im Gesundheitswesen vor.

Während Zahlen zur Bewaffnung des MfS über den Tisch gereicht wurden, gingen höchst besorgniserregende Meldungen aus der Berliner Ruschestraße ein. Vor dem dortigen MfS-Haupttor hatten sich - nach Aufruf durch das Neue Forum - Tausende versammelt. Emotional höchst aufgeladen begehrten sie Einlass in die DDR-Geheimdienstzentrale, wo im Gegensatz zu bereits gestürmten Kreis- und Bezirkszentralen des MfS weitergearbeitet wurde. Der Geheimdienst, den man nicht grundlos zu den besten der Welt gerechnet hat, versuchte, sich geordnet aus der Geschichte zu verabschieden. Man vernichtete Akten und organisierte eine sichere Abschaltung von Agenten in sogenannten Operationsgebieten.

Um 17.02 Uhr wurde das Tor geöffnet. Plötzlich. Von innen. Die Handvoll Volkspolizisten, die es »bewachten«, traten zur Seite. Als Flutwelle ergoss sich der Protest in den weiten, dunklen Innenhof des MfS. »Es« zog die Masse zielstrebig zum Haus 18. Das war das einzig erleuchtete - und das bedeutungsloseste im ganzen Komplex. Hier waren ein Friseurladen, eine Kaufhalle, ein Reisebüro. Scheiben splitterten, Papiere rieselten durch Treppenhäuser, man schwenkte eroberte Wimpel und warf Feuerlöscher und eine Leninbüste aus Fenstern. Ein Gemisch aus Wut und Siegesstolz bestimmte die Szenerie.

Die Führung des Geheimdienstes hatte sich derweil in ein konspiratives Quartier irgendwo in Berlin zurückgezogen und ließ sich kontinuierlich berichten, ob alles nach Plan lief. In dem war kein Platz für den Einsatz von Waffen. Ein Blutbad, das viele befürchtet und einige erhofft haben mögen, fand nicht statt.

Eine Stunde nach der Toröffnung waren Vertreter des Runden Tisches vor Ort. Ministerpräsident Hans Modrow (SED-PDS) beruhigte die Massen per Lautsprecherrede. Führer der Bürgerbewegung sorgten dafür, dass die Demonstranten friedlich abzogen. Derweil geleiteten Offiziere der Volkspolizei, deren Uniformen wie gerade dem Magazin entnommen aussahen, ein Reporterteam vom »Spiegel« zum obersten Abwickler des Amtes für Nationale Sicherheit (AfNS), wie das MfS damals bereits hieß. Heinz Engelhardt, der jüngste General der »Firma«, war freundlich und auskunftsbereit. So sicherte er, dass »die Welt« erfuhr, wie kooperativ und harmlos der DDR-Geheimdienst inzwischen ist. Dass dessen Akten nicht unbedingt förderlich sind für ein beabsichtigtes Zusammenwachsen der beiden Deutschlands, war ihm ebenso wie dem Einheitskanzler Helmut Kohl und seinen Unionsgetreuen bewusst. Doch weder die einen noch die anderen konnten sich gegen die Träger der friedlichen Revolution in der DDR stellen.

Die Geschichte des »Stasi-Sturms« ist vielfach und verziert erzählt. Darin spielen die ominösen Trupps, die im Gegensatz zu den Demonstranten nicht das Haus 18 besetzten, sondern klammheimlich wie kundig in das Haus 2 eindrangen, keine Rolle. Zielsicher wurden Zimmer der DDR-Spionageabwehr und Aktenspeicher aufgebrochen. Dass die Teams vom Bundesnachrichtendienst geschickt wurden, bestreitet der damalige BND-Chef Hans-Georg Wieck. Glaubwürdig. Dass Leute vom Verfassungsschutz, der in Westberlin seinen Sitz hatte, so viel Mut aufbrachten, ist noch unwahrscheinlicher.

Erfolgreich bei der Übernahme von MfS-Arbeitsergebnissen erwies sich die CIA. Der US-Geheimdienst landete einen Supercoup. Zwei Jahre nach dem »Sturm« bekam die Agency Hunderttausende Datensätze der MfS-Hauptverwaltung Aufklärung in die Hand. Wie, darüber gibt es verschiedene Versionen. Eine deutet auf einen ranghohen Offizier des KGB. Der sowjetische Geheimdienst, nach dessen tschekistischen Maximen das MfS gebildet wurde und arbeitete, soll eine Mikroverfilmung der MfS-Kartei angeboten und dafür lächerliche 75 000 Dollar erhalten haben.

Ab 1992 machten sich die Analysten der CIA über das Material her. Es gab einen Prozess gegen MfS-Informanten in den USA. Durch den ist bestätigt, dass die CIA unter falscher Flagge HVA-Mitarbeiter ansprach. Wie viele hat man so genutzt, erpresst, umgedreht oder beseitigt? Darüber wagen auch deutsche Geheimdienstler keine Aussage. Nur sparsamst gewährte die CIA dem Bundesamt für Verfassungsschutz kurze Blicke in die Dateien, aus denen in Kombination mit bei der Stasi-Unterlagen-Behörde gespeichertem Material detaillierte Rückschlüsse auf Personen möglich sind, die für das MfS gearbeitet haben.

Erst 2003 kam das MfS-Material, auf CDs gebrannt, nach Deutschland zurück. Seltsam lückenhaft, teilweise durch automatische Auswertungssysteme verfälscht. Noch im selben Jahr richtete die einstigen Bürgerrechtlerin Marianne Birthler, inzwischen Chefin der Stasi-Unterlagen-Behörde, eine Forschungsgruppe zur Auswertung des sogenannten Rosenholz-Materials ein. Geleitet wurde sie von Helmut Müller-Enbergs. Der in Sachen DDR-Geheimdienst erfahrene Mann äußerte sich nur sparsam zu Details. Der Bericht seiner Arbeitsgruppe ist bis heute weitgehend tabu. Doch, so sagte der Forscher einem »Zeit«-Journalisten, man habe sich schon gefragt, »ob das MfS irgendwann einmal nicht in Fraktionsstärke im Bundestag saß«.

Noch zum Ende der DDR lieferten 18 Quellen Informationen über das Auswärtige Amt in Bonn. Die Anzahl wird noch bedeutender, wenn man weiß, dass nur jeder fünfte MfS-Informant mit politischer Spionage befasst war. Wichtigere Zielobjekte waren in Wissenschaft und Wirtschaft, an Universitäten, in Forschungslabors, bei IBM, Carl Zeiss in Oberkochen ... In all diesen Bereichen hat es nie ein gesteigertes Aufklärungsinteresse gegeben. So geht man davon aus, dass auch nach der deutschen Rosenholz-Auswertung allein in der Bundesrepublik Deutschland um die tausend MfS-Quellen unerkannt blieben. In den neuen Ländern dagegen gab es weitere Massenüberprüfungen. Der Freistaat Sachsen ließ abermals fast 50 000 Lehrer, Polizisten und Richter überprüfen. Ohne Anhörung der Motive, der Umstände und individueller Schuld wurden Menschen an den Pranger gestellt.

Ob dahinter wohl eine neue Spielidee steckt? Besser nicht.