nd-aktuell.de / 25.01.2020 / Reise / Seite 30

Winterfreuden auf friesischen Inseln

Watterkundung im Nationalpark, Fahrrad fahren durch Inselwälder, die Idylle eines Inseldorfs und echter Algenkäse: Die niederländisch-friesische Küste hat auch dieser Tage ihre Reize.

Axel Pinck

Trudy hat sich in ein dunkles Gewand gehüllt. Sie ist Inselführerin und will uns auf einen Nachtspaziergang mitnehmen. Es geht nicht um atemberaubende Attraktionen, sondern um die kleinen Dinge, ums Hören, Fühlen, Riechen - und trotz der Dunkelheit auch um das Sehen. Trudys Taschenlampe strahlt auf einen Flecken Moos. Hektisch flüchten Käfer und andere Krabbler vor dem Lichtstrahl. Über uns rascheln Vögel durch Kiefernzweige. Die Äste der Bäume werfen geheimnisvolle Schatten. Etwas später im Kiefernwald hören wir Geräusche, die wir vorher nicht wahrgenommen haben, das Rauschen des Windes in den Blättern oder das ferne, kurze Bellen eines Hundes. Im Sternenlicht können wir die Umrisse der Umgebung nur schemenhaft ausmachen. Überhaupt die Sterne. Die Milchstraße mit ihrem Meer von glitzernden Himmelskörpern funkelt silbrig in aller Pracht am sonst tiefdunklen Himmel. Ausgewiesene Gegenden auf den »Waddeneilanden« Frieslands sind offiziell als »Dark Spots« deklariert. Ohne Beeinträchtigung durch Licht von Straßenlaternen oder Häusern ist die unendliche Weite des Weltalls hier sicht- und spürbar.

Entspannende Fährpassage

Doch eigentlich hatte der Kurzurlaub schon mit der Fahrt auf der Fähre »Vlieland« angefangen, die den Hafen von Harlingen auf dem friesisch-niederländischen Festland mit der Wattinsel verbindet. Entspannte Atmosphäre auf dem modernen Schiff, kein Gedränge, nur eine überschaubare Zahl von Urlaubern, Insulanern und Lieferanten. Nur die letzteren dürfen ihr Fahrzeug auf die gut 90-minütigen Tour über das Wattenmeer zum eigentlich autofreien Eiland mitnehmen. Die auswärtigen Inselbesucher haben ihre Fahrzeuge beim Fährhafen von Harlingen geparkt.

In der Sommersaison kommen zu den knapp 1100 ständigen Einwohnern über 10 000 Urlauber auf die rund 20 Kilometer lange und etwas über zwei Kilometer breite Insel, meist aus den Niederlanden, aber auch aus Belgien, Großbritannien und Deutschland. Doch auch in der kälteren Jahreszeit hat die Insel eine wachsende Zahl von Liebhabern, die gerade die Ruhe, die Natur und die frische Luft an der Nordsee schätzen. Erholsame Wanderungen durch beschauliche Wäldchen im Inselinneren und entlang der endlos langen Strände an der manchmal wilden Nordsee. Die einzige Ortschaft, Oost-Vlieland, liegt mit Fähr- und Jachthafen an der ruhigeren Wattküste im Norden der Insel. Im Inselsüden breitet sich die riesige Sandfläche »Vliehors« aus: teils Naturschutzgebiet, teils Militärareal - eine »Sahara des Nordens«.

Wattwanderung

Wie Nachtführerin Trudy startet auch Lars seine Tour beim »Waddencentrum De Noordwester«, einer lohnenswerten Ausstellung zu Flora und Fauna der Insel. Das angebaute winzige Gefängnis mit einem einzigen Raum für zwei Personen war einst vor allem eine Ausnüchterungszelle. Heute sind hier Gummistiefel in allen Größen für Wattwanderungen »eingesperrt«. Das Watt vor der Südostküste Vlielands wird gemeinsam mit den Landschaften der anderen Westfriesischen Inseln der Niederlande, der deutschen und der süddänischen Nordseeküste als Nationalpark geschützt und gehört zum Welterbe der UNESCO. In dem einzigartigen Ökosystem leben mehr als 10 000 verschiedene Tier- und Pflanzenarten.

Mit einem Spatenstich legt Lars den Untergrund des bei Ebbe trocken gefallenen Meeresbodens frei. Der pechschwarze Modder unter der sandigen Deckschicht ist von Gängen der Wattwürmer durchzogen. »Die Würmer erschließen mit ihrer Untergrundarbeit gleichzeitig Sauerstoff und Nährstoffe für die tieferen Erdschichten«, erklärt der junge Mitarbeiter des Nationalparks, der im scharfen Wind, der ungebremst über das Watt zieht, nicht zu frieren scheint - auch ohne Mütze, Schal oder Handschuhe.

Dorfrundgang zur Inselgeschichte

Emilie Handorp freut sich, wieder einmal etwas Deutsch sprechen zu können. Sie ist langjährige Mitarbeiterin im Tromp’s Huis von 1575, dem ältesten Gebäude Vlielands - heute ein Museum zur Inselgeschichte. Es ist im Wohnstil einer wohlhabenden Familie restauriert, wie zur Zeit vor mehr als 100 Jahren, als es die Familie Akersloot bewohnte.

Hier startet auch der »Monumentwalk«, ein Dorfrundgang zu markanten Gebäuden von Oost-Vlieland. Zunächst geht es entlang der langen Dorpstraat mit ihren Geschäften, gemütlichen Restaurants und Cafés, aus denen abends Kerzenschein nach außen dringt, dann um die Ecke auf den Kirchplatz. »Die Nicolaaskerk«, so erzählt Emilie, »ist schon etwas Besonderes.« Die 1605 errichtete Seemannskirche wurde rund 40 Jahre später zu einem kreuzförmigen Kirchenbau erweitert. Kirchenbänke, Kanzel und auch die wuchtigen Stützbalken für die Decke stammen von ausgeschlachteten Schiffswracks. Bei der Kanzel kann man in der Verkleidung noch Schlüssellöcher erkennen, die von der Kombüse eines untergegangenen Schiffes stammen. Die Walfangtradition der Seeleute zeigt sich auf dem Friedhof. »Familien, die sich keinen teuren Grabstein für ihre lieben Verstorbenen leisten konnten, ritzten deren Namen und Daten stattdessen auf einen mächtigen Walknochen, der noch heute das Grab markiert«, weiß Emilie zu berichten.

Hier wird den Schiffen heimgeleuchtet

Auf mit dem Leihfahrrad in die Dünenlandschaft! Germ Veenstra war früher Leuchtturmwärter. Er kennt jede Schaumkrone auf den Nordseewellen mit Vornamen. Schließlich hat der Mann mit dem wettergegerbten Gesicht schon 30 Jahre Leuchtturmdienst hinter sich. Heute bietet er Touren auf den Leuchtturm an, der sich auf der 42 Meter hohen Vuur-Boetsduin-Düne erhebt und passierenden Schiffen mit inzwischen vollautomatischen Lichtsignalen einen sicheren Weg weist. »Die 1967 im Sturm gesunkene Margeriti ist das letzte Wrack, das hier auf dem Meeresgrund liegt«, erzählt er, »danach wurden alle gestrandeten Schiffe geborgen.« Eine Meereskarte markiert 200 Schiffswracks, die davor Opfer der Nordseestürme wurden.

Leckeres aus dem Käsebunker

Nils Koster war einst Musiklehrer auf dem Festland. Heute produziert er in der Käserei »Kaaslust« verschiedene Käsesorten. Der besondere Clou: die Käselaibe reifen nicht weit vom Inselleuchtturm hinter dicken Betonwänden. Sie gehören zu den Bunkerräumen des »Atlantikwalles«, den einst die deutsche Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges entlang der europäischen Nordseeküste anlegen ließ. Nils Koster reicht einen Probierhappen herüber: »Algenkäse ist unser Star im Vlielander Kaasbunker. Die handgeernteten Vlieländer Algen sind für die grüne Maserung und vor allem für das würzige Aroma und die leichte Salznote verantwortlich«. In der Tat, ein ungewöhnlicher Genuss.

Unsere Fahrräder hatten wir einfach an einen Baum gelehnt. Schwere Ketten oder Schlösser, die anderswo ihren Diebstahl erschweren sollen, sind hier nicht üblich. Vlieland, eine Insel der Seligen? Zumindest ein ungewöhnlich friedliches und entspanntes Eiland, gut geeignet, um die hektische Betriebsamkeit des Festlandes weit hinter sich zu lassen.