Das Versprechen

Die IG Metall will in dieser Tarifrunde die Angleichung der Arbeitszeit in Ostdeutschland durchsetzen.

Nach all den Jahren will es die IG Metall nun noch einmal wagen und die 35-Stunden-Woche auch in Ostdeutschland durchsetzen. «Ohne ein Ergebnis in der Angleichung der Arbeitszeit im Osten wird die Tarifrunde nicht beendet», sagt Stefan Schaumburg, seit Mitte Januar neuer Bezirksleiter der IG Metall Berlin-Brandenburg-Sachsen.

Schon seine Besetzung ist eine Ansage. Schaumburg leitet beim Bundesvorstand in Frankfurt am Main seit 2012 den Bereich Tarifpolitik und wird diese Aufgabe auch weiterhin wahrnehmen, während er den Bezirk kommissarisch führt. Wenn «Mister Tarifpolitik» der IG Metall nun nach Berlin geschickt wird, lässt dies vermuten: Der Mann wird eingewechselt, um den Ball ins Tor zu bringen. Schaumburg ist überdies nur für ein paar Monate in Berlin, ab Oktober übernimmt Birgit Dietze, derzeit IG-Metall-Bevollmächtige in Berlin, den Bezirk.

Die bundesweite Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie startet Anfang Februar. Womöglich stellt die Gewerkschaft diesmal keine bezifferte Lohnforderung. Am Freitag schlug ihr Vorsitzender Jörg Hofmann den Arbeitgebern stattdessen Verhandlungen über einen «Zukunftspakt» zum digitalen und ökologischen Wandel vor, der «konkrete Investitions- und Produktperspektiven für Standorte» enthält (siehe nebenstehenden Beitrag). Am 3. und 4. Februar entscheidet der IG-Metall-Vorstand endgültig, welche Forderung er empfiehlt.

Wie die neuen Themen mit der alten Forderung nach Arbeitszeitverkürzung in Ostdeutschland verzahnt werden, darüber wird zurzeit beraten.

Die Erwartungen im Osten sind groß. In der westdeutschen Metallindustrie gilt die tarifliche 35-Stunden-Woche seit 1995. Im Osten hingegen scheiterte die Übernahme 2003 trotz eines vierwöchigen Streiks. Diese Niederlage hat lange nachgewirkt. Doch besonders in den produktiven ostdeutschen Ablegern der großen (westdeutschen) Automobilkonzerne, bei VW in Zwickau und Chemnitz, Porsche und BMW in Leipzig oder auch großen Zulieferern wie ZF oder Mahle machen die Beschäftigten seit Langem Druck, einen neuen Versuch zu wagen. Bezirkskonferenzen haben entsprechende Beschlüsse gefasst, Delegierte das Thema auf Gewerkschaftstage getragen.

Schon die letzte Metalltarifrunde vor zwei Jahren erweckte zwischen Berlin und Leipzig den Eindruck, als wäre die 35 bereits Teil des offiziellen Forderungskatalogs. Dabei soll erst jetzt eine Forderung formuliert werden, für die «im Notfall auch gestreikt werden könnte». Wir «werden uns nicht mehr länger hinhalten lassen, sondern die Angleichung der Arbeitszeit in Ostdeutschland mit den Mitteln der Tarifpolitik in dieser Tarifrunde lösen», erklärte Schaumburg vor einigen Tagen.

In den Betrieben ist man erfreut über die Worte des neuen Bezirksleiters. «Das Thema muss in dieser Tarifrunde abgeräumt werden, sagen die Beschäftigten in meinem Zuständigkeitsbereich», berichtet Thomas Knabel, der die größte ostdeutsche IG-Metall-Geschäftsstelle in Zwickau führt. Unternehmen im Osten klagen über Fachkräftemangel und E-Wende. Für Knabel sind das alles Probleme, die für die 35 sprechen: «Ob sie da bleiben oder gehen, machen junge Leute hier bei uns davon abhängig, wo Arbeits- und Lebensbedingungen am besten sind.»

Es geht um drei Stunden pro Woche, die Beschäftigte in der Metallindustrie bis heute im Osten laut Tarifvertrag länger arbeiten müssen als die Kollegen im Westen. Auf ein gesamtes Erwerbsleben gerechnet macht das drei Jahre. Generell ist die Arbeitszeit in den letzten Jahren tarifpolitisch wichtiger geworden. Die acht Tage mehr Urlaub, die in der letzten Tarifrunde als Wahlmöglichkeit zu einem Entgeltplus durchgesetzt wurden, sind besonders in den Werken der Automobilindustrie im Osten sehr beliebt. Ost-Metaller arbeiten nicht nur länger, sondern auch zu fast 80 Prozent im Schichtsystem.

Zugleich ist die 35 zu einem Symbol für Gerechtigkeit und soziale Einheit in der Bundesrepublik geworden, so wie die 38-Stunden-Woche in Ostdeutschland zum Zeichen einer anhaltenden Benachteiligung wurde. «Diese Forderung ist im 30. Jahr der Deutschen Einheit überfällig», betont denn auch Schaumburg.

Für ostdeutsche Metaller geht es aber auch um die Frage, welchen Gestaltungsanspruch ihre Gewerkschaft in Ostdeutschland hat: Folgt man immer nur den Weichenstellungen aus dem Westen oder greift man eigenständig ein Thema auf, das originär den Mitgliedern in ostdeutschen Betrieben auf der Seele brennt?

Der zweite Anlauf zur 35-Stunden-Woche Ost passt zur offensiveren Tarifpolitik, die die IG Metall in den letzten Jahren gefahren ist. Sie hat die Betriebsarbeit intensiviert und gewinnt so vielerorts neue Mitglieder. Zugleich gibt es aber noch immer etliche gewerkschaftsfreie Zonen in Ostdeutschland und die Verhandlungen mit den Arbeitgebern sind zäh. Zuletzt verstrichen anderthalb Jahre, in denen mit den Arbeitgeberverbänden über mögliche Angleichungsschritte gesprochen wurde. Zwischenzeitlich sah es so aus, als ob mit dem Berliner Arbeitgeberverband eine Einigung und damit ein Pilotabschluss möglich ist. Doch dann intervenierte Gesamtmetall und pfiff die Berliner zurück.

Die Gespräche endeten ergebnislos, obwohl die IG Metall bereit war, die Absenkung der tariflichen Arbeitszeit über mehrere Jahre zu staffeln. Womöglich lassen sich auch die Arbeitszeitansprüche von Beschäftigten in Ostdeutschland nur mit Streiks durchsetzen. «Die Zeit der Gespräche ist vorbei, stellt Tarifexperte Schaumburg fest, »jetzt wird auf Augenhöhe verhandelt.«

Gesamtmetall will die Forderungen der IG Metall erst kommentieren, wenn sie der Vorstand beschlossen hat. Der Verlauf der Tarifrunde hängt mit davon ab, ob der Dachverband der Arbeitgeber weiter auf einer »Lösung für alle« besteht, die sich am kleinsten Mittelständler im strukturschwachen Sachsen-Anhalt orientiert. Dies konnte und wollte die IG Metall ihren Mitgliedern in den gut organisierten Werken nicht vermitteln, die überzeugt sind, die 35 in ihren Häusern sofort durchsetzen zu können. Sie favorisierte daher eine verbindliche, aber zeitlich gestaffelte Lösung, bei der die kürzere Arbeitszeit zu unterschiedlichen Zeitpunkten in Unternehmen eingeführt werden kann. Auch die Frage des Lohnausgleichs gehörte zu den Knackpunkten der gescheiterten Gespräche, genauso wie der Versuch von Gesamtmetall, die Arbeitszeitfrage auf die betriebliche Ebene zu verschieben und die IG Metall aus der konkreten Ausgestaltung herauszuhalten.

Im vergangenen Jahr drohte die IG Metall mehrfach mit »Häuserkampf«. Wenn ein branchenweiter Abschluss nicht gelingt, bleibt diese Option immer noch. Doch vorerst strahlt der Interimsbezirksleiter Schaumburg Sicherheit aus, wenn er gegenüber den Kolleginnen und Kollegen das Motto ausgibt: »Alle sagten: Das geht nicht. Dann kamen wir, die das nicht wussten, und haben es gemacht.«

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