Die Straße lässt sich nicht zählen

Erste Ergebnisse aus der »Nacht der Solidarität« liegen weit unter bisherigen Schätzungen der Obdachlosenzahlen

  • Claudia Krieg und Marie Frank
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Sozialsenatorin ist zufrieden mit dem Verlauf der »Nacht der Solidarität«: »Wir wissen jetzt mehr über das Alter obdachloser Menschen, ihr Geschlecht, woher sie kommen und erstmals auch, wie lange sie schon wohnungslos sind«, so Elke Breitenbach (LINKE) bei der Veröffentlichung der ersten Ergebnisse am Freitag. Rund 2700 Freiwillige hatten in der Nacht vom 29. auf dem 30. Januar erstmals gezählt, wie viele Menschen in Berlin auf der Straße leben. Knapp 2000 Obdachlose wurden dabei ermittelt - weit weniger als die Schätzungen, die von 6000 bis 10 000 reichten.

»Wir konnten mit der Zählung nur die sichtbar im öffentlich zugänglichen Raum lebenden Menschen an einem Stichtag erfassen«, sagt Susanne Gerull, Professorin der Sozialen Arbeit an der Alice-Salomon-Hochschule und Mitinitiatorin der Nacht der Solidarität zur Erklärung. Doch nicht alle Obdachlosen schlafen im öffentlichen Raum, viele von ihnen leben auf Privatgrundstücken. Sie alle gehen nicht in die offizielle Obdachlosenstatistik ein.

Auch Menschen, die in Kellern, auf Dachböden, in Kleingartenanlagen oder auf der Couch von Bekannten schlafen, habe man bei der Zählung nicht erfasst, so Gerull. Systematische Verzerrungen sieht sie dadurch nicht. Die Zählung beruhe auf einem in New York entwickelten und in mehreren europäischen Metropolen erprobten Modell und sei nach allen Regeln sozialwissenschaftlicher Forschung erfolgreich durchgeführt worden.

»Für das Ausmaß der versteckten und verdeckten Wohnungslosigkeit kann es nicht die eine Zahl geben«, betont Gerull. Allen sei klar gewesen, dass sich einige Menschen der Zählung bewusst entziehen, während andere Obdachlose gewissermaßen darauf gewartet hätten. Schätzungen, wie viele Menschen sich womöglich versteckt haben, um nicht gezählt zu werden, hält sie für statistisch nicht haltbar: »Eine Hochrechnung ist nicht möglich«, so die Professorin.

Insgesamt zählten die Teams 1976 obdachlose Menschen: 807 davon wurden im öffentlichen Raum registriert, 15 in Krankenhäusern, 158 im öffentlichen Nahverkehr (112 in der S-Bahn, 46 bei der BVG) und 12 in Polizeigewahrsam. In den Einrichtungen der Kältehilfe wurden 942 erfasst, dazu kommen weitere 42, die sich in der Nacht in der Übernacht-Cafés in der Gitschiner Straße 15 in Kreuzberg aufgehalten haben.

Von den 807 im öffentlichen Raum angetroffenen Personen befanden sich 540 innerhalb und 267 außerhalb des S-Bahnrings. Etwa ein Drittel der Menschen (288) hat den Zählteams über ihre Lebenssituation berichtet. Demnach waren etwa 56 Prozent der Befragten zwischen 30 und 49 Jahre alt. 113 gaben bei der Frage nach ihrer Nationalität deutsch an, 140 Menschen waren EU-Bürger*innen, weitere 31 Menschen stammten aus EU-Drittstaaten. 39 Personen waren weiblich, 243 männlich, sechs machten dazu keine Angabe. Fast die Hälfte der Befragten lebt bereits seit mehr als drei Jahren auf der Straße.

»Wir werden jetzt die Daten der einzelnen Zählräume auswerten und in Zusammenarbeit mit den Bezirken sowie den Akteurinnen und Akteuren der Wohnungslosenhilfe überprüfen, welche Hilfsangebote vor Ort verbessert werden müssen«, kündigte Breitenbach an. So zeige die große Anzahl der Nutzer*innen des Übernacht-Cafés, dass es mehr solcher Orte brauche. Existierten in einem Bezirk nur deutschsprachige Hilfsangebote und es stelle sich nun heraus, dass die meisten Obdachlosen dort rumänisch sprechen, könne entsprechend nachjustiert werden. Auch seien viele Obdachlose als Paar unterwegs, Angebote der Kältehilfe, die nach Geschlechtern trennen, müssten daher verändert werden.

Für die vielen EU-Bürger*innen unter den obdachlosen Menschen wird es allerdings keine einfachen Lösungen geben: Anspruch auf soziale Leistungen gibt es nur bei nachweislicher Arbeit. Viele der Obdachlosen befinden sich allerdings in inoffiziellen Beschäftigungsverhältnissen - nicht selten handelt es sich dabei um systematische Ausbeutungsverhältnisse ohne Rechtssicherheit.

Im Frühsommer 2021 soll in Berlin die nächste Obdachlosenzählung stattfinden, auch um zu sehen, wie sich die Jahreszeiten auf die Zahlen auswirken. Das Vorgehen soll dabei das gleiche bleiben. Man setze darauf, Misstrauen abzubauen, sagt Breitenbach: »Ich will kein Klima der Angst und Verfolgung, ich möchte mit den Menschen in dieser Stadt zusammenarbeiten und wissen, welche Hilfsangebote sie brauchen.«

Die LINKE-Politikerin zeigt sich überrascht, wie sehr sich in den vergangenen drei Jahren die Atmosphäre beim Thema Obdachlosigkeit verändert hat: »Bei der ersten Strategiekonferenz war die Stimmung noch: Eure Armut kotzt uns an«, erinnert sich Breitenbach. Das habe sich deutlich gedreht, wie auch die Berichte der Zähler*innen zeigten: »Viele sagen, dass sie nun eine neue Perspektive gegenüber Obdachlosen eingenommen haben, und sich weiter ehrenamtlich engagieren wollen.« Mögen die Obdachlosen in der »Nacht der Solidarität« nicht alle gezählt worden sein, zumindest sind sie sichtbarer geworden.

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