nd-aktuell.de / 29.02.2020 / Kultur / Seite 10

»Den Osten verstehe ich«

Paula Irmschler über ihren Debütroman, Frauen als Anhängsel und die unfertige Stadt Chemnitz

Ruth Oppl

»Chemnitz als Sehnsuchtsort«, so bewirbt der Verlag deinen gerade erschienenen Debütroman »Superbusen«.

Ja. Ich denke, man müsste das eigentlich umdrehen. Nicht: »Man sehnt sich nach Chemnitz«, sondern: »Wenn man in Chemnitz ist, dann sehnt man sich nach anderswo.« Wenn man aber nicht mehr da wohnt, dann sehnt man sich vielleicht nach Chemnitz zurück. »Chemnitz als Sehnsuchtsort«, das finde ich schon eher schwierig. »Chemnitz ist ein Ort der Sehnsucht« finde ich besser, damit könnte ich leben.

Der Nazi-Aufmarsch in Chemnitz im August 2018, wo es seinerzeit Hetzjagden auf Migranten und Gegendemonstranten gab, und die »Wir sind mehr«-Demonstration, die 2020 stattfand, ebenfalls in Chemnitz, bilden die erzählerische Klammer in deinem ersten Roman, der gerade erschienen ist.

Das war gar nicht so beabsichtigt. Ich hatte schon ein halbes Jahr vorher angefangen, das Buch zu schreiben. Die Idee war auch schon vor ein paar Jahren da. Chemnitz sollte eigentlich gar nicht so eine große Rolle spielen, sondern nur Ausgangspunkt für die Tour sein, auf die die im Roman vorkommende Freundinnenclique geht. Es sollte eigentlich nur um die Tour gehen. Dann sind der Aufmarsch und die Demos passiert, und ich habe beim Schreiben gemerkt, dass das immer mehr Raum einnimmt.

Du bist wie deine Hauptfigur in Dresden aufgewachsen und zum Studieren nach Chemnitz gezogen. Die Orte, die du beschreibst, zum Beispiel die Clubs oder den Twitter-Account namens »Hat heute in Chemnitz ein IC oder ICE gehalten?«, gibt es ja wirklich. Wo verläuft bei dir die Trennlinie zwischen Fiktion und Realität?

Es ist schwierig, das auseinanderzudröseln. Es geht ja auch um antifaschistische Strukturen, das habe ich stärker fiktionalisiert. Linke Orte zum Beispiel habe ich nicht so genannt, wie sie wirklich heißen. Wir wissen ja, in welchen Zeiten wir leben. Es ist schon komisch, wenn man beim Schreiben denkt: »Nicht dass die Orte auf einer Liste landen, nur weil sie in meinem Buch genannt werden.« Und auch da, wo es um andere Menschen geht, die ich sonst vielleicht in die Pfanne gehauen hätte, habe ich verdichtet und verändert. Ich wollte ja nicht, dass sich jemand wiedererkennt und sich blöd dargestellt fühlt. Ich will nicht, dass Leute durch meinen Roman verletzt werden.

Der Kulturbetrieb neigt ja dazu, Kulturschaffende zu »Marken« zu machen und mit einem »Label« zu versehen. Das wäre bei dir dann vielleicht die »Chemnitz-Expertin«?

Ich habe auf jeden Fall ein wenig die Sorge, dass ich jetzt Chemnitz erklären soll. Ich hatte deshalb auch kurz ein bisschen Bauchschmerzen, ob ich das wirklich machen soll: über Chemnitz schreiben, nach den Ausschreitungen. Weil ich heute dort nicht mehr lebe und da nicht geboren bin und ich mir nicht anmaßen will, die Expertin für Chemnitz zu sein. Es gibt dort ja auch Leute, die sich seit Jahren und Jahrzehnten tatsächlich engagieren. Ein bisschen zeigt sich ja im Roman, dass die Freundinnen-Gruppe, die ich beschreibe, sich gar nicht besonders viel engagiert, sondern eher träge ist und ein bisschen depressiv.

Wenn es um Chemnitz geht, sollen bitte die Leute befragt werden, die sich dort immer noch und nach wie vor den Arsch aufreißen. Ich hoffe, dass klar wird, dass mein Buch nicht der Chemnitz-Erklärungsroman ist. Ich hätte auch eine andere Stadt wählen können. Es ist eigentlich gar nicht Chemnitz-spezifisch, was ich beschreibe. Natürlich: die Nazis und so, klar. Aber es hätte natürlich auch eine andere deutsche Stadt sein können.

Hätte die Geschichte tatsächlich überall spielen können? In Hamburg zum Beispiel?

Nee, das nicht. Mir ging es schon darum, dass der Roman im Osten spielt. Weil: Den Osten verstehe ich. Bis ich nach Köln gezogen bin, habe ich mich gar nicht so sehr als Ostdeutsche wahrgenommen. Das kam erst jetzt, mit der Irritation, dass man doch merkt: Es gibt Unterschiede. Auch unter Linken gibt es krasse Unterschiede, etwa zwischen ostdeutschen und westdeutschen Linken. Deswegen war mir der Ort der Handlung wichtig, weil ich manchmal das Gefühl habe, dass es eine westdeutsche Ignoranz dem Osten gegenüber gibt - ohne jetzt zwingend den Osten verteidigen zu wollen oder ein großes Bohei darum zu machen. Man muss den Osten auch nicht cool finden, aber man muss verstehen, warum wir, die wir im Osten aufgewachsen sind, anders sind.

Worin genau besteht dieses »Anderssein«?

Die akute Gefahr für Linke im Osten sind halt Nazis. So. Wenn ich in westdeutsche Städte fahre, ist es da manchmal auch so, aber es ist dort nicht der Alltag. Dafür gibt es viel mehr linke Strömungen. Ich kannte das vorher alles gar nicht, nur aus dem Internet. Da gibt es dann Queerfeministinnen und die, was weiß ich, Ideologiekritiker und die Stalinisten, tausend verschiedene Formen von Linkssein! Mittlerweile gibt es das auch im Osten ein bisschen, aber nicht so ausgeprägt. Und es ist im Westen auch schwieriger, in die linken Gruppen reinzukommen. Es kommt mir dort elitärer vor. In den linken Kreisen, in denen ich im Osten unterwegs war, da waren alle mit dabei: arbeitende Leute, ältere Leute, junge Leute. Und man hat halt was gegen die Nazis gemacht. Und fertig. Dann war man dabei.

Was mir auch aufgefallen ist - aber das kann natürlich an dem speziellen Kreis liegen, in dem ich mich bewege -, ist, dass mehr Leute im Osten in prekären Verhältnissen leben. Meiner Erfahrung nach ist es so, dass die Eltern eher Arbeiterinnen und Arbeiter sind und oft Alleinerziehende, selbst wenn man studiert hat. Im Westen habe ich eher das Gefühl: Da sind die Eltern noch zusammen, und da gibt es auch immer Geld. Alles ist ein bisschen sicherer, das Netz ist tragfähiger.

Ich habe also sowohl ökonomische als auch tatsächlich politische Unterschiede wahrgenommen. Man kann darüber diskutieren, ob das so stimmt oder ob das nur an meiner Wahrnehmung oder meinem speziellen Umfeld liegt, aber ich hatte schon immer das Gefühl, dass ich das erklären muss, dass es bei uns, im Osten, einfach anders ist.

»Gisela« heißt die Hauptfigur in deinem Roman. Das ist auch im Osten ein eher ungewöhnlicher Name, oder?

Das fragen mich wirklich alle. Und alle sind auch sauer, weil das ein eher altbackener Name ist. Ich erkläre aber gleich am Anfang des Romans, dass sie nach einem Schnaps benannt ist, den man im Osten gerne trinkt: Wodka und Limejuice, und das heißt halt »Gisela«. Es ist ein Spitz- oder Kosename.

Gisela ist ein richtiger Slacker und ziemlich genau das, was man sich als klassischen Antihelden so wünscht. Wen würdest du dir im Falle einer Verfilmung als Darstellerin der Gisela wünschen?

Ganz ehrlich: Ich habe keine Ahnung. Das müsste eine junge Nachwuchsschauspielerin sein, die jetzt noch unbekannt ist. Weil: Wen gibt es denn da heute? Es gibt ja für dicke Frauen, wie Gisela eine sein müsste, nur Rollen wie die »lustige Dicke« oder die »traurige Dicke«. Und das ist sie ja beides nicht. Da müsste man vermutlich jemanden ganz neu casten.

Ich habe auch nicht weggelassen bei ihr als dicker Frau, dass sie Probleme mit ihrem Körper hat, Essstörungen, whatever. Bridget Jones ist ja das Klischee: Die Frauen wollen immer abnehmen und wollen ein schönes Leben, und dann klappt es auch irgendwann, wenn sie halt abgenommen haben. Oder irgendwie so ein Scheiß. Das macht ja aber die Gesellschaft mit einem. Trotzdem kann man das Thema auch nicht weglassen, weil es halt immer da ist.

Cooler als eine Verfilmung meines Buches fände ich die Verfilmung eines anderen Stoffes, in dem eine dickere Frau oder auch mehrere dicke Frauen mitspielen, und sie sind einfach da. Ihr Körper wird gar nicht thematisiert. Sie machen einfach ihr Ding, und es ist ganz normal, dass sie dick sind. Das fände ich fast noch besser.

Du hast vor ein paar Jahren im »Kaput-Magazin«, einem Online-Popmagazin, einen Text geschrieben, in dem du dich mit dem lyrischen Ich in der Popmusik auseinandergesetzt und darüber gesagt hast: »Das gibt es gar nicht.«

Was ich da gemeint habe, war, dass es kein Zufall ist, dass sich Männer andere Männer, die Frauen hassen, als lyrisches Ich nehmen. Ich habe selten eine Frau erlebt, die auf die Idee gekommen wäre, ein lyrisches Ich erzählen zu lassen, das ein Mann ist, der Frauen hasst. Das finde ich einfach auffällig.

Noch mal zurück zu dem lyrischen Ich und deiner These, dass es so etwas gar nicht gibt: Wie ist das jetzt bei dir und Gisela? Wie sehr verarbeitest du eigene Traumata mit diesem lyrischen Ich.

Schon viel, natürlich. Aber ich kann es nicht so genau sagen. Es ist nicht alles autobiografisch, aber schon sehr vieles. Es war auch nicht so beabsichtigt, und ich habe auch überlegt, ob ich gar nicht aus der Ich-Perspektive erzähle, aber dann konnte ich es nicht mehr schreiben. Ich habe halt auch nie vorher ein Buch geschrieben. Das kommt natürlich noch dazu. Vielleicht habe ich es gar nicht geschafft, so weit von mir selbst wegzukommen, wie ich das gerne gehabt hätte.

Ich weiß es nicht, ob man mehr Mut dazu braucht, nah bei sich zu sein, oder mehr Mut, weiter von sich weg zu sein. Mir tut Gisela eigentlich fast schon ein bisschen leid, und ich will ihr wie einer kleinen Schwester sagen: »Komm, es wird schon.«

Ein Soundtrack für eine Verfilmung wäre dagegen schon da. »Superbusen« ist im Roman der Name einer Band. Du zitierst Songtexte, es gibt eine Playlist zum Buch auf Spotify, und reale Musikerinnen sind Vorbild und Role Model für deine Figuren.

Ich hatte mir auch schon überlegt, ob man nicht wirklich die Band Superbusen gründen könnte. Also gar nicht unbedingt ich, sondern irgendwelche Leute, die Bock darauf haben und sich dann einfach so nennen könnten. Es müssten halt Frauen sein. Man könnte auch die Songs, die ich für die Band erfunden habe, vertonen. Vielleicht sollte ich mich da noch mal ransetzen und was auskaspern, das wäre einfach cool. Und bei den Lesungen, klar, da kann man die Songs, die es jetzt schon gibt, auflegen.

Ich habe selbst auch immer eher Pop-Romane gelesen. Das war so eine Entdeckung: »Hey, es gibt noch andere Menschen, für die auch Musik das treibende Ding ist!« So hat man auch einen Eindruck bekommen, wie das in anderen Städten aussieht, und überhaupt eine Idee vom coolen Leben bekommen. Auch wenn man dann später merkt, dass das doch nicht so cool ist.

Außer Musik sind die neuen Medien, also Twitter und Facebook, für deine Protagonistinnen wichtig. Ein bisschen kommt auch noch das Fernsehen vor. Was eigentlich gar nicht vorkommt, sind Bücher. Hast du jetzt das Buch geschrieben, von dem du dir gewünscht hättest, dass deine Ich-Erzählerin es hätte lesen können, als sie noch jung war?

Das ist mir gar nicht aufgefallen mit den Büchern. Musik und Social Media, das läuft ja so nebenbei, wenn man unterwegs ist: dass man dann halt auf Twitter guckt, was gerade los ist, oder über den Kopfhörer einen bestimmten Song hört.

Mich hat es aber immer schon genervt, dass es eigentlich nur solche Erzählungen gibt: Drei bis fünf Typen, die sind so ’ne Gang und ziehen durch die Stadt, und die Stadt gehört denen dann. So ist es ja auch in der in Leipzig spielenden Verfilmung des Clemens-Meyer-Romans »Als wir träumten«. Die Frauen sind immer nur so dabei, sie sind entweder das love interest oder die sich Sorgen machenden Mütter. Das stimmt aber nicht, so ist das gar nicht. Ich kenne viele Frauen in solchen Cliquen, und es gibt auch reine Frauencliquen. In meiner Jugend hätte ich mir das auf jeden Fall gewünscht, dass viel häufiger solche Frauengruppen gezeigt werden. Nicht nur die »Hey, wir trinken Kaffee oder Sekt zusammen und reden über unsere Typen«-Frauen, sondern auch die, die rumhängen, kiffen, denen es Scheiße geht, die aber auch Action machen und klauen oder so. Also so dieses typische Jugend- oder Junge-Erwachsene-Ding, aber mit Frauen. Das hat mir auf jeden Fall gefehlt.

Die Frauenclique in deinem Roman hat auch ganz reale Existenzsorgen. Es geht nicht so zu, wie es oft dargestellt wird: dass die Heldin einen 3,50-Euro-Job macht, aber in einer 150-Quadratmeter-Altbauwohnung lebt.

(lacht) Carrie Bradshaw!

Genau.

Ja, und selbst darunter gibt es auch noch eine Stufe. Es gibt ja Leute, denen es noch viel beschissener geht als den prekär lebenden Studentinnen, über die ich schreibe. Das finde ich auch immer wieder erschreckend: dass man schon in diesem Milieu gucken muss, wie man seine Miete bezahlt und wovon man sich ernährt. Und selbst das kann noch schlimmer sein. Das ist schon ganz schön krass.

Ein bisschen wirkt Chemnitz in deinem Roman wie das »Querxenland«, wo deine Ich-Erzählerin Gisela mit ihrer Familie als Kind Urlaub macht. Für die Kinder ist es eigentlich egal, dass es nicht richtig weit weg ist: Hauptsache, es gibt ein Schwimmbad und ein Sprungbrett, und dann hat man es schön.

So ist es ja auch. Während die anderen Kinder damals in den USA waren, was eigentlich total sinnlos ist. Da war man halt in New York, aber davon weiß man nichts mehr, weil man fünf oder sechs Jahre alt war.

Das ist schon auch das Coole an Städten wie Chemnitz, dass man denkt: »So ’ne Stadt, da gibt’s nicht viel, geil, ich hab tausend Ideen, lass uns das und das und das machen.« Aber man scheitert halt ständig daran und stellt fest: Es hat Gründe, warum es das nicht gibt. Da kommt dann das Ordnungsamt oder die Polizei wegen Ruhestörung, und dann ist es auch schon wieder vorbei, und der Laden muss schließen. Immer wieder scheitern. Das ist schon bitter. Aber die Leute, die in Chemnitz geblieben sind, sagen, dass es genau das ist, was sie mögen: dass es so eine unfertige Stadt ist und dass man es deshalb auch merkt, wenn man dort was macht.

Ich wollte dort einfach nicht mehr so viel sein. Das ist wie in der Liebe. Ich hab mich einfach fremdverliebt in die Stadt Köln und bin relativ spontan abgehauen. Nach Köln. Das ist die Stadt, in der ich mich am wohlsten fühle. Ich bleib hier auch. Auf jeden Fall. Für immer.