nd-aktuell.de / 10.03.2020 / Kultur / Seite 33

»Die Zukunft war auch schon mal besser«

Rudolf Stumberger stellt die 500-jährige Geschichte von Utopien vor und fragt nach ihrer Wirksamkeit

Alexander Amberger

In Anbetracht der gegenwärtigen tiefen Krisen diskutiert die Linke in Partei und Bewegung seit einiger Zeit wieder verstärkt über Zukunftsfragen. Gesucht werden Visionen, die Ökologisches und Soziales zusammendenken und zugleich auf gesellschaftliche Zustimmung stoßen. Vergessen wird dabei zuweilen, dass zur linken Tradition auch eine 500-jährige Utopiegeschichte gehört. Diese enthält hinreichend Inspirationen, Lehren, aber auch Warnungen. Ein schönes Einführungsbüchlein in die Geschichte dieses Genres hat nun Rudolf Stumberger vorgelegt, nd-Lesern als Autor bekannt.

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Rudolf Stumberger: Utopie konkret – und was daraus geworden ist. Alibri, 155 S., br., 15 €.

Der Begriff Utopie ist sehr weit gefasst und wird umgangssprachlich anders definiert als in der geisteswissenschaftlichen Forschung. Stumberger folgt in seiner Definition dem Soziologen Karl Mannheim. Vor einem Jahrhundert formulierte dieser, dass Ideen einer besseren Gesellschaft entweder zu verschleiernden Ideologien erstarren oder zu realen, relativen Utopien entwickelt werden können. Solche (erfolgreichen) Projekte schaut sich Stumberger an. Ähnlich wie Ernst Bloch sucht er dabei sehr weit gefasst nach dem Utopischen in der Geschichte. Die ältesten Konzepte, die vorgestellt werden, sind mittelalterliche Klöster, in denen eine enge Gemeinschaft mit festen Regeln und Ritualen meist asketisch lebt. Ebenfalls christlich sind die »Neuen Orden« des Joachim von Fiore aus dem 12. Jahrhundert.

Den Bruch mit dem Mittelalter und die beginnende Neuzeit repräsentieren die klassischen Staatsromane von Thomas Morus (»Utopia«) und Thomas Campanella (»Der Sonnenstaat«) aus dem 16. Jahrhundert. Erneute Umsetzungsversuche in die Praxis findet Stumberger bei Charles Fourier und André Godin in Frankreich sowie bei Robert Owen in England und Amerika. Ebenfalls im 19. Jahrhundert versuchen religiös-kommunistische Siedlungen wie Amana und Oneida in den USA den Schritt in die konkret-utopische Praxis.

Weiterhin analysiert Stumberger Utopien aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, namentlich die Entwürfe von Edward Bellamy (»Rückblick aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887«), William Morris (»Kunde von Nirgendwo«), August Bebel (»Die Frau und der Sozialismus«), Alexander Bogdanow (»Der rote Planet«) und Charlotte Perkins Gilman (»Herland«).

Das Jahr 1917 markiert für den Autor eine Wende in der Utopiegeschichte, denn mit der Oktoberrevolution kam es zu einem ungeahnten Praxistest utopischer Ideen. Nach 1945 wurden die teilweise bereits erkalteten Ergebnisse der Russischen Revolution nach Osteuropa und in die DDR exportiert. Stumberger findet weitere praktische Versuche im 20. Jahrhundert und nennt hier die Kibbuz-Bewegung, den westlichen Sozialstaat und die 68er. Schließlich stellt er ökologische Utopien vor, namentlich »Planet der Habenichtse« von Ursula K. Le Guin, »Ökotopia« von Ernest Callenbach und »Morgen« aus der Feder Robert Havemanns.

All diese Utopien sind natürlich nur kurz zusammengefasst und werden dann exemplarisch abgeglichen. Stumbergers Parforceritt bestätigt die These des Politologen Richard Saage, wonach Utopien als »Seismographen des Zeitgeistes« fungieren. Stumberger schreibt abschließend: »Als Fazit lässt sich festhalten, dass jene Bereiche der Realität am weitesten von der Utopie entfernt sind, die am Kern der Gesellschaftsordnung liegen, also um die Produktionsverhältnisse herum gruppiert sind. Das Zentrum bilden dabei das Privateigentum an Produktionsmitteln und die Produktion von Waren. Um diesen Kern herum gruppieren sich die Phänomene der Arbeitsorganisation, des Lohnes, des Konsums und der Verteilung. Sie unterliegen der Schwerkraft des Privateigentums, die sich in der Differenz der heutigen Verhältnisse zu den utopischen Entwürfen ausdrückt. Bereiche, die von diesem Kern weiter entfernt sind wie Sexualität, Kleidung oder Ernährung geben sich in Hinsicht auf die utopische Intension neutraler oder haben sich hier angenähert.«

Kritisch anmerken lässt sich, dass Stumberger die vorgestellten Utopien etwas zu positiv sieht und die Gefahren und negative Entwicklungsmöglichkeiten übergeht. Eine zentrale Form utopischer Literatur ist seit einem Jahrhundert die Dystopie. Es überrascht, dass er diese völlig ignoriert. Ein Abgleich der heutigen digitalen Gesellschaft etwa mit »1984« von George Orwell wäre durchaus interessant gewesen, da Stumbergers Einschätzung unserer Gegenwart ohnehin negativ ausfällt: Er sieht zwar vor dem Hintergrund der multiplen Krise des globalen Kapitalismus eine dringende Notwendigkeit für neue Utopien, macht jedoch kulturkritisch gegenwärtig keinen gesellschaftlichen Nährboden dafür aus. Letztlich trauert er der Zeit nach, als es noch welche gab. Mit Karl Valentin gesprochen, den er hierzu zitiert: »Die Zukunft war auch schon mal besser.« Möge dies nicht so bleiben!