Eine Epidemie nimmt ihren Lauf

Ungarns Opposition zettelt eine Mammut-Volksabstimmung an

  • Gábor Kerényi, Budapest
  • Lesedauer: 3 Min.
Volksabstimmungen sind eine zutiefst demokratische Institution. Doch Ungarn rutschte in den vergangenen Monaten langsam, aber unaufhaltsam in einen Volksabstimmungswahn.
Die Epidemie begann ihren Lauf zu nehmen, als die führende Oppositionspartei Fidesz (Bund Junger Demokraten) nach der sogenannten Lügenrede des ungarischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány - dem Eingeständnis, der Bevölkerung vor den letzten Wahlen nicht die ganze Wahrheit gesagt zu haben - die Regierung zu stürzen versuchte. Fidesz-Führer Viktor Orbán erklärte anlässlich der Demonstrationen im vergangenen Herbst immer wieder, das Kabinett werde umgehend abtreten, weil keine Regierung gegen den Willen des eigenen Volkes regieren kann. Doch Gyurcsány blieb. Dann versprach Orbán seinen Anhängern, die Regierung werde ihr Leben aushauchen, sobald die sozialistisch-liberale Parteienkoalition die Gemeinderats- und Bürgermeisterwahlen verliere. Letzteres geschah, doch Gyurcsány blieb. Daraufhin visionierte Orbán vor Zehntausenden unter ungarischen National- und Naziflaggen, die Regierung werde den 50. Jahrestag des Aufstands von 1956 nicht überleben. Gyurcsány blieb. Fidesz musste die Taktik ändern. Statt Großkundgebungen zu organisieren, versucht Orbán inzwischen, zentrale Gesetzesvorhaben, die das Sparpaket der Koalition betreffen, durch Volksabstimmungen zu torpedieren und dadurch die Regierungsarbeit unmöglich zu machen. Fidesz reichte bei der Landeswahlkommission nicht weniger als zehn Punkte für eine Volksabstimmung ein. Landeswahlkommission und Verfassungsgericht stritten heftig darüber, zu wie vielen der Punkte das Volk seine Meinung legitimerweise äußern darf, und einigten sich schließlich auf eine beträchtliche Zahl. Derweil aber ist die Fidesz-Anhängerschaft auf den Geschmack gekommen. Die Leute begannen, die Landeswahlkommission mit ihren eigenen Eingaben zu bombardieren. Auf dem Tisch der Kommission liegen schon über 80 Fragen, über die das Volk gleichzeitig befinden soll, von denen sich manche jedoch schlicht und einfach widersprechen. So spiegeln sich in dieser Volksabstimmungswut die weit verzweigten Wünsche ungarischer Bürgerinnen und Bürger. Jüngst reichte ein Sprachwissenschaftler, um die tendenziösen Formulierungen der ursprünglichen Fidesz-Fragen der Lächerlichkeit preiszugeben, seine eigenen, ebenso tendenziös formulierten Fragen ein. Heißt es bei Fidesz: »Sind Sie einverstanden, dass Medikamente nur in der Apotheke verkauft werden dürfen?«, so möchte der Wissenschaftler die Frage zur Abstimmung gestellt sehen: »Sind Sie einverstanden, dass einzelne nicht rezeptpflichtige Medikamente auch außerhalb der Apotheken verkauft werden dürfen?« In Ungarn kann das Volk in jeder für verfassungskonform befundenen Frage zur Abstimmung gerufen werden, sobald 200 000 Unterschriften zur Unterstützung vorhanden sind. So ist es gut möglich, dass beide Fragen offiziell gestellt werden. Die formellen Voraussetzungen erfüllt nach jüngsten Angaben der Wahlkommission auch der Antrag auf Einführung einer gesetzlichen Mittagsruhe. Die Kommission schließt nicht aus, dass für die bevorstehende Volksabstimmung 12 bis 15 Fragebögen benötigt werden könnten. Allerdings wird das Mammut-Unternehmen noch einige Zeit auf sich warten lassen. Die komplizierte Verfahrensregelung, die Einsprüche, Stellungnahmen und Fristen dreifach demokratisch absichert, erlaubt die Durchführung des Referendums nämlich frühestens im nächsten Mai.
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