nd-aktuell.de / 14.03.2020 / Politik / Seite 16

Eine Mission, die alles verändert

Der Gastronom Andreas Steinert rettete Flüchtlinge aus dem Mittelmeer. Ein Protokoll von Heidi Diehl

Heidi Diehl

Irgendwann konnte ich es einfach nicht mehr ertragen. Die täglichen Bilder von Menschen, die im Mittelmeer sterben. Als dann Anfang 2016 an nur einem einzigen Tag 600 Flüchtlinge ertranken, wusste ich: Du musst dorthin und mithelfen, weitere solche Tragödien zu verhindern. Gleichgesinnte fand ich beim Verein Sea-Eye e.V., der 2015 von dem Regensburger Michael Buschheuer gegründet wurde. Dort bewarb ich mich für einen Rettungseinsatz. Ich sagte ihnen, ich sei Koch, nicht ängstlich und könne zupacken.

Als ich meiner Familie von dem Plan erzählte, war ich mir sicher, dass sie mein Vorhaben unterstützen würde. Obwohl ich wusste, dass ich hinten und vorne fehlen würde. Denn unsere Familie ist gleichzeitig ein Familienunternehmen. Gemeinsam mit meinem Bruder, unseren Frauen sowie den Eltern betreiben wir in Falkenberg bei Bad Freienwalde die »Carlsburg«, ein Ausflugslokal mit 200 Jahre alter Tradition, und außerdem noch ein großes Geschäft mit Dekoartikeln. Fällt da nur einer aus, brennt die Luft. Ich bot an, meinen halben Jahresurlaub für die Mission zu nehmen, und bat den Familienrat, mich für die restliche Zeit freizustellen. Wir mussten nicht darüber diskutieren, nur gemeinsam überlegen, wie die Arbeit für die Zeit meiner Abwesenheit zu organisieren wäre.

Und dann war es soweit: Im Juni 2017 flog ich nach Malta, um für die nächsten drei Wochen auf der »Sea-Eye« anzuheuern, die dort vor Anker lag. Die meisten der zehn Crewmitglieder waren wie ich das erste Mal dabei, fast alle ohne seemännische Erfahrung. Dass es keine Spazierfahrt werden würde, war uns natürlich klar, was uns wirklich erwartete, konnte sich keiner so richtig vorstellen. Meine Aufgabe an Bord war es nicht nur zu kochen, sondern ich gehörte auch zu den RIB-Drivern, wie die Crewmitglieder genannt werden, die mit dem Schlauchboot rausfahren, um die Flüchtlinge zu betreuen - den Erstkontakt mit ihnen herstellen, sie beruhigen, Rettungswesten und Wasser verteilen, Verletzte und Kranke an Bord holen.

Nach rund 36 Stunden hatten wir die SAR-Zone erreicht, also die Grenze zwischen internationalen Gewässern und libyschem Hoheitsgebiet, an der entlang wir patrouillierten und Ausschau nach Flüchtlingsbooten hielten. Bald schon sahen wir das erste, vielleicht 130 Menschen drängten sich darauf. Wir fuhren hin, verteilten Rettungswesten und Trinkwasser und holten einen schwer verletzten Mann an Bord, um ihn medizinisch zu versorgen. Zeitgleich baten wir die zuständige Seenotrettungsleitstelle (MRCC) in Rom, uns ein Militärboot zu schicken, das die Flüchtlinge aufnimmt und in einen Hafen bringt. Viele glauben ja, die NGOs entscheiden selbst, wohin sie die Geretteten bringen. Das ist ein Irrtum. Dafür ist einzig und allein die MRCC zuständig. Mal ganz davon abgesehen haben Rettungsboote wie das unsere gar nicht die Kapazitäten, Hunderte Menschen aufzunehmen.

Wir holten also das Flüchtlingsboot neben uns auf Stand-by und warteten auf das Militär, das erst spät in der Nacht eintraf. Kaum waren die Flüchtlinge in Sicherheit, erreichte uns aus Rom ein neuer Hilferuf: Unweit von uns war ein weiteres Schlauchboot gesichtet worden. Dort angekommen sahen wir, dass da noch eines war. Von der MRCC erfuhren wir, dass etwa zehn Meilen entfernt die »Juventa« lag, die schon acht bis zehn Flüchtlingsboote an ihrer Seite hatte. Weitere völlig überladene Boote waren nur ein paar Meilen entfernt gesichtet worden. Wir überlegten, wie wir alle bei der »Juventa« zusammenführen können. Wir versuchten, auf den beiden Flüchtlingsbooten, die wir bereits in Stand-by hatten, Leute zu finden, die in der Lage wären, die kleinen Außenbordmotoren zu bedienen, um - begleitet von unserem RIB-Boot - die zehn Meilen bis zur »Juventa« aus eigener Kraft zurückzulegen, so dass die »Sea-Eye« sich um weitere Flüchtlingsboote kümmern könnte. Wir fanden auch zwei Männer, die sich das zutrauten, doch plötzlich tauchten da ein paar sogenannte Engine-Fischer auf. Das sind Leute, die zu den Schlepper-Netzwerken gehören und aufgrund der Wetterbedingungen genau wissen, wann die Flüchtlingsboote die internationalen Gewässer erreichen. Dorthin folgen sie ihnen und demontieren dann die Außenbordmotoren, um sie für die nächsten Schleppertouren zu verwenden, und überlassen die Menschen ihrem Schicksal.

Als die schwer bewaffneten Männer die beiden Boote sahen, die wir zur »Juventa« begleiten wollten, fuhren sie auf sie zu, um sich die Motoren zu holen. Das wollten wir natürlich verhindern, zumindest bis zu Ankunft der Flüchtlingsboote bei der »Juventa«. Die einzige Möglichkeit sahen wir darin, mit denen einen Kompromiss auszuhandeln: Wir fahren unbehelligt zur Sammelstelle, dann bekommt ihr die Motoren. Wir hatten natürlich Schiss, denn ihren Waffen hatten wir nichts entgegenzusetzen. Zum Glück ließen die sich darauf ein.

Nicht selten wird den Seenotrettern vorgeworfen, sie würden mit den Schleppern gemeinsame Sache machen. Was natürlich völliger Blödsinn ist. Aber was willst du tun, wenn du auf einmal Leuten gegenüberstehst, die bis an die Zähne bewaffnet sind und nicht zögern würden, von den Waffen auch Gebrauch zu machen? Da bleibt dir keine Wahl.

An diesem Tag haben wir 15 Flüchtlingsboote mit über 2000 Menschen »eingesammelt«. Darunter waren viele Kinder, Schwangere, Schwerkranke, Verletzte. Etliche mussten wir an Bord nehmen und ärztlich versorgen, weil sie es bis zum Eintreffen der Militärschiffe nicht geschafft hätten. Das geht schon sehr an die Nieren, wenn dir eine Mutter ihr Baby in den Arm legt und damit ihre ganze Hoffnung auf dessen Leben.

Ein Erlebnis aber hat mich fast an den Rand des Erträglichen gebracht. Darüber zu sprechen fällt mir immer noch schwer. Auf einem der komplett überladenen Flüchtlingsboote war eine hochschwangere und bewusstlose Frau. Wir hatten schon Mühe, sie von dort in unser Schlauchboot zu holen. Doch das Schwerste stand uns noch bevor - sie musste dringend an Bord der »Sea-Eye« und ärztlich versorgt werden. Wir sind also ganz dicht an den Seenotretter herangefahren, ich bin an Bord gegangen, zwei andere Crewmitglieder hievten die Bewusstlose so weit hoch, dass ich sie unter den Armen packen konnte. Als ich sie gerade aushebe und hochziehen will, rollte eine riesige Welle an und trägt das RIB-Boot fort. Jetzt hing die Frau in der Luft, ich konnte sie kaum halten. Bis heute weiß ich nicht, wie ich es schaffte, den extrem schweren, bewusstlosen Körper aufs Schiff zu ziehen. Zum Glück gelang es mir, sie fiel wie ein 200 Kilo schwerer nasser Sack auf mich drauf. Danach musste ich erst einmal in meine Kajüte, ich war völlig fertig, mit den Nerven am Ende, habe geheult wie ein Schlosshund.

Irgendwie schafften es die Ärzte, die Frau wieder zum Leben zu erwecken. Als ich mich wieder einigermaßen gefangen hatte, bin ich zu ihr gegangen. Dankbar erzählte die etwa 30-Jährige von ihrer Odyssee: Sie sei aus Mali, wo sie miterleben musste, wie fast ihre gesamte Familie ermordet wurde. Traumatisiert schloss sie sich einem Flüchtlingstross an. Von den etwa 20, die den gefährlichen Weg durch die Sahara nach Libyen begonnen hatten, kamen nach 14 Monaten nur sechs an, alle anderen überlebten die Strapazen nicht. Kaum hatten sie die Grenze zu Libyen überschritten, griffen Menschenhändler sie auf und brachten sie in illegale Lager. Die Männer wurden als Arbeitssklaven verkauft, die Frauen reihenweise vergewaltigt. An manchen Tagen sei ein Dutzend Männer brutal über sie hergefallen, erzählte sie. Als sie nach einem Jahr schwanger wurde, hätten sie ihr ein Gewehr an den Kopf gehalten und sie vor die Wahl gestellt: Entweder sie besorgt 1500 Dollar für einen Platz auf einem Schlauchboot oder sie werde erschossen. Irgendwie brachten Verwandte und Freunde in Mali das Geld auf. Eines Tages hätten die Wärter mitten in der Nacht Hunderte Leute hochgetrieben, auf sechs Schlauchboote verfrachtet und auf dem Meer ihrem Schicksal überlassen. Nicht alle hätten Platz auf den Booten gefunden, etliche Menschen seien am Ufer zurückgeblieben. Als sich die Boote ein paar Hundert Meter vom Ufer entfernt hatten, sei plötzlich Maschinengewehrfeuer zu hören gewesen. Sie habe sich nicht umgedreht, war sich aber ziemlich sicher, dass die Zurückgebliebenen einfach abgeknallt wurden.

Zwei Missionen habe ich bisher miterlebt, die Bilder haben sich unauslöschlich im Kopf festgebrannt. Manchmal sind sie kaum zu ertragen. Dennoch: Ich werde wieder aufs Mittelmeer fahren, um Menschen zu retten.

Oftmals werde ich gefragt, ob mich diese Rettungseinsätze irgendwie verändert haben. Alles hat sich seitdem für mich geändert. Früher wollte ich immer gute Geschäfte machen, unser Familienunternehmen weiter ausbauen. Heute, mit 48, wiegt der Gedanke, anderen helfen zu können, viel mehr als ein cooles Geschäft. Schon nach meinem ersten Einsatz wusste ich, dass ich mich künftig mehr in diese Richtung engagieren will. Seitdem bin ich regelmäßig in Schulen, bei Organisationen und anderswo unterwegs und diskutiere mit den Leuten über die Rettungsmissionen und die vielfältigen Möglichkeiten, Flüchtlingen zu helfen. Ehemalige Crewmitglieder haben Regionalgruppen von Sea-Eye e.V. gegründet, die gemeinsame Hilfsaktionen, Infostände oder die Teilnahme an Demos organisieren. Auch in Berlin gibt es inzwischen so eine Gruppe, in der ich mich engagiere.

Als ich Heiligabend im Fernsehen die Berichte über die katastrophale Lage in den griechischen Flüchtlingslagern auf Samos und Kos sah, startete ich sofort über meinen privaten Facebook-Kanal eine Spendenaktion unter dem Motto »Macht den Truck voll«. In Windeseile verbreitete sich der Aufruf über die sozialen Medien. Als dann wenige Tage später die »Märkische Oderzeitung«, dpa und auch »neues deutschland« darüber berichteten, wurde das Ding zum Selbstläufer. Inzwischen konnten wir nicht nur einen Truck, sondern 15 Sattelzüge mit mehr als 300 Tonnen Hilfsgüter nach Griechenland bringen.

Dieses beeindruckende und spontane Handeln der Zivilgesellschaft hat uns bewogen, weiteren Hilfsaktionen einen organisatorischen Rahmen zu geben. Am 29. Februar fand in Strausberg die Gründungsveranstaltung für den Verein »Wir packen’s an!« (www.wir-packens-an.info[1]) statt. Wir wollen damit eine angemessene und deutliche Antwort zur Linderung von Not und Elend geben und auf die humanitäre Katastrophe vor unserer Haustür aufmerksam machen.

Links:

  1. http://www.wir-packens-an.info