Knechtende Arbeitsteilung

Rationales Entscheiden - in Geschichte, Gegenwart und Zukunft

  • Dieter Wittich
  • Lesedauer: ca. 4.5 Min.
Entscheidungen für oder gegen etwas zählen zu den eher alltäglichen geistigen Herausforderungen, die Menschen zu vollbringen haben. Häufig ist dabei die Wahl zwischen sich anbietenden Alternativen des Handelns nur von persönlichem Belang. Anders sieht es allerdings dann aus, wenn die Folgen einer Entscheidung Menschen existentiell berühren, vielleicht sogar Völker oder die ganze Menschheit betreffen. Oft können Menschen solche Entscheidungen kaum beeinflussen, haben sie lediglich zur Kenntnis zu nehmen oder auszuführen. Und mit wie viel Demagogie sind sogenannte »Entscheidungen« des Volkes mitunter bewerkstelligt worden! Man denke nur an die berüchtigte Rede, die Joseph Goebbels im Februar 1943 nach dem Desaster von Stalingrad im Berliner Sportpalast hielt: »Wollt Ihr den totalen Krieg?« Die Antwort war eine geradezu frenetische Bejahung - und die Folgen waren ein verlorener »totaler Krieg« mit vielen weiteren Millionen von Toten und Ruinen. Horst Kreschnak hat sich mit seinem zweibändigen Werk über »Rationales Entscheiden in Geschichte und Gegenwart« gewiss keiner Aufgabe gestellt, von der man sagen könnte, sie sei theoretisch oder politisch einfach. Der langjährige Leiter des Forschungs- und Rechenzentrums der früheren Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR, das in Dresden beheimatet war, hat sich ideenreich und vielseitig dieser Aufgabe angenommen. Von ähnlich umfassenden Arbeiten, zumal marxistisch orientierten, konnte er dabei nicht ausgehen. Eine Fülle von Fragen waren zu bedenken: Wann kann eine Entscheidung überhaupt als rational gewertet werden, wann dagegen muss sie als irrational gelten? Unter welchen Umständen ist sie überhaupt realisierbar? Wann entspricht sie lediglich den Interessen des Entscheidungssubjekts, nicht aber den Interessen jener, die eine Entscheidung auszuführen haben? Manche dieser Fragen wurden in realsozialistischen Zeiten recht vereinfacht abgetan. Entscheidungen seien dann zu bejahen, wenn sie den Interessen der Werktätigen entsprechen. Aber was genau zählt im Einzelnen zu diesen Interessen, zumal dann, wenn getroffene Entscheidungen auch geschichtlich Bestand haben sollen? Auch die einst verbreitete Ansicht, dass grundlegende gesellschaftspolitische Entscheidungen aus den Texten von Marx, Engels, Lenin oder aus Verlautbarungen des jeweiligen Politbüros einfach »abzuleiten« oder zu deduzieren wären, hält der Kritik nicht stand, nicht einmal einer logischen. Entscheidungen folgen nicht simplen Deduktionen der Art: »Alle Menschen sind sterblich, Sokrates ist ein Mensch, also ist Sokrates sterblich.« Eine solche Annahme verkennt den Unterschied, der zwischen den Zeugnissen der »praktischen« und jenen der »theoretischen Vernunft« besteht. Entscheidungen zählen, wie der Verfasser wiederholt betont, zur praktischen Vernunft. Und deren Wert oder Schicksal ist keineswegs allein von der Beschaffenheit der realen Gegenstände abhängig, die bei einer Entscheidung zu beachten sind und durch theoretische Vernunft zu erhellen versucht werden. Vielmehr geraten bei einer zu wählenden Handlungsalternative unausweichbar die sozialen Bedürfnisse und Interessen sowie die stets geschichtlich bestimmten Handlungsmöglichkeiten und -fähigkeiten der agierenden Menschen ins Spiel. Dabei besteht in sozial gegensätzlichen Gesellschaften ein oft gravierender Unterschied zwischen den Interessen jener Menschen, die Entscheidungen treffen, und jenen, die sie auszuführen haben. Dieser Widerspruch, den Kreschnak sprachlich mit der Bezeichnung »knechtende Arbeitsteilung« zu markieren sucht, ist überall dort gegeben, wo Menschen auf Grund bestehender Machtverhältnisse von politischen und namentlich ökonomischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen sind. Nicht ausgeschlossen bleibt allerdings die Mehrheit der Bevölkerung von den kostspieligen und bisweilen auch grausamen Folgen einer solchen für sie fremdbestimmten Politik. Man denke nur an die Kriege in Irak oder in Afghanistan. Kreschnak will deshalb »knechtende Arbeitsteilung« als ein soziales Grundübel eingeschränkt und schließlich beseitigt wissen. Ein solches Anliegen muss sich heute gegen die bestehende kapitalistische Ordnung wenden. Von Kreschnaks Kritik nicht verschont bleiben allerdings auch selbstherrliche Entscheidungen, wie sie aus realsozialistischen Zeiten nur allzu gut bekannt sind. Ja, »erster Beweggrund« für seine hier vorgestellten Überlegungen sei die Frage gewesen, »woran der sowjetische Sozialismusversuch gescheitert ist, an dem auch die DDR ... beteiligt war«. Manche der sozialen, besonders aber der bildungspolitischen Voraussetzungen, die endlich eine von »knechtender Arbeitsteilung« befreite Gesellschaft ermöglichen sollen, werden dabei von Kreschnak eingehender bedacht. Bei der Frage allerdings, wie das heute Entbehrte morgen Realität werden soll, wirkt der Autor ein wenig hilflos. Wie schon frühere Aufklärer setzt er, was bei Kreschnak sicher auch berufsbedingt ist, vor allem auf eine bessere Bildung. Doch Verteilung, Umfang und Inhalt von Bildung sind natürlich auch herrschaftsbedingt und als solche heute keineswegs darauf aus, »knechtende Arbeitsteilung« zu überwinden. Der Leser findet in beiden Bänden, besonders aber im zweiten Teil, eine Fülle von kritischen Anregungen und Überlegungen zur heutigen kapitalistischen Gesellschaftspolitik. Einen wichtigen Platz nimmt dabei die Forderung ein, dass Unternehmer für alle Folgekosten ihrer wirtschaftlichen Entscheidungen verantwortlich sein müssten, diese dürften also nicht auf die Allgemeinheit abgewälzt werden. Das Interesse des Autors gilt dabei namentlich den Umweltschäden. Hätte der Autor bei den genannten »Folgekosten« auch die mit der kapitalistischen Produktionsweise weltweit verbundene Arbeitslosigkeit stärker bedacht, dann wäre sicher auch die mit jeder Pauschal-Diffamierung von Arbeitslosen (etwa als »Sozialschmarotzer«) einhergehende ideologische Irreführung deutlicher hervorgetreten. Interesse verdienen schließlich auch die Gedanken des Autors darüber, dass das Bemühen um Rationalität bei der Führung einzelner Unternehmen mit einer sich irrational bewegenden Gesamtgesellschaft letztlich nicht zu vereinbaren ist. Das verdeutlicht der Autor auch durch Mittel der Symbolisierung und Formalisierung, die über die gesamte Arbeit hinweg reichlich verwendet werden. Sie tragen dazu bei, die vorgetragenen Gedanken sprachlich möglichst präzis zu fassen. In einer der Arbeit beigefügten Diskette »Computerprogramme, Methoden und Grundlagen ihrer Nutzung« wird ihre Anwendung erläutert und demonstriert. Eines kann man dieser Arbeit keineswegs absprechen: Sie regt zum Weiterdenken an! Das scheint mir das eigentliche Verdienst des Autors, weniger besteht es darin, bereits eine in sich stimmige Lösung aller zu beachtenden Probleme vorgelegt zu haben. Das war allerdings auch nicht Kreschnaks Absicht. Sein einleitend gegebenes Versprechen, dem Leser ei...

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