Den Dichter - denken

Am Sonntag starb der große Schauspieler Ulrich Mühe

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: ca. 5.0 Min.
Das Licht ist draußen. Auch das Leben der Anderen ist draußen. Überhaupt alles Leben. Und der Regen, der ist auch draußen. Drinnen aber sitzen die Menschen auf dem Trockenen. Schwüle. Drinnen ist der Tod. Er ist eine Besatzernatur. Jetzt ist er am Ziel: Körper besetzt, Gehirn eingenommen, wie ein Stiefel drückt er das Gemüt weich. So wird der Mensch zum zuckenden Bündel, zu einem Dämon, der mit Schweißtropfen um sich schleudert, dem die Adern auf die Stirn treten, dem die Augen zu Höhlen werden, der mit dem Schlimmsten um sich wirft: der rettungslos harten Wahrheit über sich selbst. Dass er totsterbenskrank ist, nur mit Morphium noch stillzuhalten. Aber er will nicht mehr stillhalten. So der Osvald in Henrik Ibsens »Gespenstern«, im hellen Anzug Ulrich Mühe, und als seine Mutter: Inge Keller - ab Mitte der achtziger Jahre, lange Zeit, eine der fesselndsten Inszenierungen in den Kammerspielen des Deutschen Theaters, Regie: Thomas Langhoff. Für den jungen, noch unbekannten Schauspieler, den Heiner Müller gerade erst als Banquo für seinen »Macbeth« an der Volksbühne aus Karl-Marx-Stadt geholt hatte, waren die »Gespenster« der sofortige Schritt in die Theatergeschichte. Mühe am DT: »Man traf sich nicht in irgendeiner Mitte«, schrieb er, »ganz oben fand alles statt, und hohe Ebenen sind klein; da muss Präsenz zeigen, wer nicht fallen will.« Er fiel nicht, er stieg, der Baufacharbeiter aus Grimma, Jahrgang 1953. Fortan unvergesslich: seine schmale, aber zähe Kraft für extreme Haltungen. Und Gestalten. (Er war, im Film, Hölderlin und Goebbels und Thomas Manns Kleiner Herr Friedemann.) Zumeist kam sein Spiel aus jener Qual mit der Welt, mit der Helden der Klassik zugleich kühne Entwürfe ins Leben warfen. Dieser Mann, so unscheinbar zunächst, aber mit dem einen einzigen Schritt hinauf zu einer Bühne: welch wunderbare Verwandlung eines Schattens in einen Lichtwerfer. Präsenz, gleichsam aus dem Zurückweichen heraus. Plötzlich war da eine Schärfe, der eine unverwechselbare Partnerschaft mit der Feinheit gelang. Wenn er spielte, mit großen Augen und einem Körper, der sich gern ins abenteuerlich Ungerade bog und zog, dann fuhren gleichsam Wirbel aus Abgründigkeit unter die Vernunft und lösten sie aus ihren geschickten Verschalungen. Mit Blicken und in allen Berührungen suchte dieser Darsteller die Offenbarung durch Blöße, und die erregendste Blöße, die bei ihm nie den Glanz der Scham verlor - er fand sie im unbarmherzigen poetischen Werk von Heiner Müller, dem Freund. Mit dessen Texten (»Einen Dichter - denken«) er einen bislang unerreichten Müller-Abend schuf; innig kalt, aufwühlend klar. An dessen Grab er Benn rezitierte. Dessen »Hamlet/ Hamletmaschine« zum verzweifelt anschwellenden Abgesang aufs Botschaftstheater am Ende der DDR wurde. Noch Botschaften im Herbst 1989? Wo doch der Sommer die Prager Botschaft zur Bühne einer ganz anderen Wahrheit erhoben hatte: Endlich Schluss mit dem Theater! Mühe gehörte zu den Initiatoren des 4. November auf dem Alexanderplatz, und im erwähnten Stück Müllers, vom Dichter selber inszeniert, steht Hauptdarsteller Mühe vor einer Tafel und streicht den Text durch, es ist eine Bekräftigung: »Ich bin nicht Hamlet./ Ich spiele keine Rolle mehr.« Volker Braun würde bald schreiben: »Da bin ich noch: mein Land ging in den Westen. KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN.« Ende einer künstlerischen Auftragslage, die mit Gesinnung zu tun hatte, gleichsam mit Fürstenerziehung in Richtung (führendes oder geführtes?) Volk. Mühe ging mit der Zeit: Auch er ging, mit dem Land. Er hatte das Deutsche Theater als Olymp erfahren, war selber olympisch geworden, aber er sah das schöne Haus als zwangsläufige Endstation. Von hier ging doch auch deshalb keiner weg, über die Jahre, weil dahinter die Mauer stand. Nun stand da die Welt, und zwar offen. Angesichts dessen wollte Mühe nicht, dass das, was eben noch Sinn war, nun Starr-Sinn würde. Er hatte einen Mut zur Freiheit, den manche nicht verstanden damals; vielleicht begriff er anfangs selber nicht (zum Glück), was an gesicherter Existenz im so Kunstvollen er da aufgab. Denn musste, wer ins Fernsehen ging (»Der letzte Zeuge«), sich nicht vorkommen wie ein kleiner Planet Geist, auf den ein Riesenfeuerball namens Narretei zuraste? Zunächst spielte er am Wiener Burgtheater, und sein Regisseur Claus Peymann nannte ihn den »Kommunisten«. Das war sie also immer noch, die alte junge Schule eines Theater, das sich fremd fühlte, wenn es nicht diskutierte, wenn es mit seinem Publikum keine wirklich spürbare Beziehung eingehen konnte. Auswechselbare Zuschauer, lauter Unangreifbare? Nicht sein Feld. So wurde aus dem großartigen Schauspielkünstler der Bühne mehr und mehr ein gefragter, starker Filmschauspieler, in Helmut Dietls »Schtonk«, in Michael Hanekes »Benny's Video« und »Funny Games«, in Costa-Gavras' »Stellvertreter«. Vorher hatte er schon die Hauptrolle in Bernhard Wickis Joseph-Roth-Verfilmung »Das Spinnennetz« gespielt: von beklemmender Wahrhaftigkeit sein Porträt eines biegsamen Hänflings - in einem Aufstieg, der ihn zum Ab-Fall macht; so jämmerlich, so schlotternd. Und hinterm hässlich Bleichen doch sichtbar: der Leidensschatz eines - Menschen. Im vergangenen Jahr starb Ulrich Mühes frühere Ehefrau Jenny Gröllmann. Am Ende stand zwischen beiden eine bittere, öffentlich ausgebreitete Fremdheit, ausgelöst durch IM-Verdächtigungen gegen die Schauspielerin. Vordergründig stand alles in Kontext zu Mühes berührendem Spiel im »Leben der Anderen«, ein Werk, das so beklemmend das Verrats-Gen des Menschen »seziert«. Auch Jenny Gröllmann starb an Krebs. Beide nun in furchtbare Parallelität gerückt. Krebs steht nicht im Dienst von Orakeln, er vollzieht keines Anderen Urteile; ein freier Angestellter des Todes, er tut das Seine bedenkenfrei unlogisch. Entsetzlich kalter Sommer jetzt. Zwei Menschen, viele Wahrheiten. Mühe sagte in seinem letzten Lebensjahr den Satz: »Ich will keine Rache oder Strafe, ich will nur die Freiheit, die Dinge beim Namen zu nennen; das darf mir keiner mehr nehmen.« So ein Satz, wird er wirklich gelebt, bringt frische und dicke Luft mit sich. Es ist Aufruf einer Freiheit, die ohne Schmerz, Trennung, Missverständnis nicht zu haben ist. Sie kostet. Er hat es erfahren. Aber der Satz ist, so furchtbar grobe Folgen er denn haben kann, doch auch ein ganz großartiger Satz. Aber weil er ein Satz ist, der für jeden gelten darf, sorgt er meist für Tragödien. Weil das so ist, sind manche Menschen vorsichtig. Ist Vorsicht eine moralische Kategorie? Am Sonntag starb Ulrich Mühe, vierundfünfzigjährig, in Walbeck, Sachsen-Anhalt. Die Familie begrub ihn gestern. ...

Wenn Sie ein Abo haben, loggen Sie sich ein:

Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.

Bitte aktivieren Sie Cookies, um sich einloggen zu können.