nd-aktuell.de / 20.03.2020 / Kommentare

Solidarische Antwort von unten statt Repression

Niema Movassat ist mit möglichen Ausgangssperren zur Eindämmung des Coronavirus nicht einverstanden

Niema Movassat

Der Coronavirus ist auch deshalb so gefährlich, weil er auf ein Gesundheitssystem trifft, dass schon im Normalfall überlastet ist. Deshalb muss es darum gehen, die Ausbreitung des Virus massiv abzubremsen. Dafür bedarf es einer gesellschaftlichen Kraftanstrengung. Jede und jeder ist gefordert. Die gewonnene Zeit muss dafür genutzt werden, die Krankenhäuser besser auszustatten und zusätzliche Personal einzustellen. Hier ist die Politik dringend gefordert, die finanziellen Mittel bereitzustellen. Was wir nicht brauchen, sind weitere kollektive Grundrechtseingriffe, welche die über Jahrzehnte erkämpften Bürger*innenrechte zu Makulatur werden lassen.

Den Virus ausbremsen: Solidarische Antwort von unten

In den sozialen Medien werben verschiedene Kampagnen dafür, die eigenen direkten Kontakte einzuschränken. Expert*innen sind sich einig, dass nur so die Ausbreitung des Virus ausgebremst werden. Pflegekräfte werben mit Hashtags wie #bleibtZuhause[1] für einen solidarischen Umgang. International verbreitet ist der Hashtag #staythefuckhome[2] Hashtag, getragen vor allem von denen, die in Italien die schrecklichen Folgen eines sorglosen Umgangs mit dem Virus erleben mussten. Auch bilden sich allerorts Nachbarschaftsinitiativen, die das eigene Umfeld aufklären und gleichzeitig solidarische Hilfe anbieten. Diese Initiativen von unten sind eine hoffnungsvolle und sinnvolle Antwort auf die Krise. Jede und jeder sollte zum Eigenschutz und zum Schutz anderer Menschen dringend mitmachen!

Was macht die Bundesregierung?

Die Bundesregierung hat die Gefahr des Virus zu lange unterschätzt. In ihrer Fernsehansprache hat Kanzlerin Merkel Appelle an die Bevölkerung gerichtet, ihre Freizeitgestaltung umzustellen. Das ist richtig, wird aber nicht reichen. Einerseits sind vernünftigerweise auch kleine Veranstaltungen verboten, andererseits sind Millionen Menschen weiterhin gezwungen zur Arbeit zu fahren und dort dutzende, gar hunderte Kolleg*innen zu treffen. Ein wirksamer Schritt wäre es, jetzt einen Arbeitsstopp für alle Betriebe anzuordnen, die nicht für die Aufrechterhaltung der Infrastruktur notwendig sind oder keine lebensnotwendigen Güter herstellen. Die Unternehmensführungen dieser Betriebe sollten verpflichtet werden, die Arbeiter*innen und Angestellten nach einer Schulung zur gesundheitlichen Prävention bei vollen Lohnzahlungen für drei Wochen freizustellen.

Es ist absurd, sich darüber aufzuregen, dass kleine Grüppchen in einem Park sitzen und gleichzeitig darüber zu schweigen, dass andere in Werkshallen mit zum Beispiel 200 Menschen arbeiten müssen, die irgendwas herstellen, was zurzeit niemand akut braucht. Vorübergehend geschlossen werden müssen endlich auch sämtliche Restaurants (die aber natürlich Lieferdienste anbieten können), Cafés, Friseure etc. Dies schützt die Arbeitnehmer*innen und verhindert, dass Menschen in Massen aufeinandertreffen.


Nein zur Ausgangssperre!

Stattdessen aber werden schon die nächsten weitreichenden Eingriffe in das Privatleben und in die Bürger*innenrechte diskutiert, ehe die Wirkung der bisherigen Maßnahmen richtig einsetzen konnte. Selbst die linksliberale taz kritisiert an Merkels Rede, dass diese nicht zumindest eine Ausgangssperre androht. Immer mehr Medien und Bürger*innen rufen nach einer Ausgangssperre. Vereinzelt wollen sie sogar, dass die Bundeswehr diese gemeinsam mit der Polizei durchsetzt.

Tatsächlich stellt sich die Frage, wer eine Ausgangssperre effektiv durchsetzen soll. Die Polizei alleine könnte damit überfordert sein. Der Einsatz der Bundeswehr indes wäre ein massiver Tabubruch. Sie wurde im Inland zwar schon in der Hochwasserhilfe eingesetzt, aber zum Glück nie, um Staatsgewalt gegenüber den Bürger*innen auszuüben. Ein Blick in andere Länder offenbart, wie die Ausgangssperre umgesetzt wird. Spanien setzt die Armee ein und lässt die Bürger*innen per Drohnen überwachsen. Israel hat seinem Geheimdienst Zugriff auf sämtliche Ortungsdaten der Mobiltelefone gewährt, um die Ausgangssperre durchzusetzen. Alle Bewegungen der BürgerInnen werden lückenlos überwacht. Wir reden also bei einer Ausgangssperre nicht über eine Kleinigkeit, sondern den größtmöglich denkbaren Grundrechtseingriff gegenüber einer gesamten Bevölkerung.

Das absurde an der Ausgangssperre ist auch, dass zwar spazieren gehen im Park verboten wird, man aber weiter zur Arbeit muss. Für die Wirtschaft soll der Mensch weiter da sein, aber seine Freizeit darf er nicht mehr draußen verbringen. Dabei lässt sich durch das konsequente Verbot von Menschenansammlungen und die Schließungen von Ausgehorten vermeiden, dass Menschen zu stark aufeinandertreffen, ohne das die Möglichkeit eingeschränkt wird, die eigene Wohnung zu verlassen.

Mit der Ausgangssperre droht eine Weichenstellung vorgenommen zu werden, die in eine autoritäre Gesellschaft münden kann. Der Ruf nach dem Staat, der konsequent durchgreift und Grundrechte vollständig außer Kraft setzt, ist der Ruf nach dem Staat, der jenseits des Grundgesetzes liegt. Zudem muss jedem klar sein: einmal eingeschränkte oder abgeschaffte Bürger*innenrechte lassen sich nicht ohne weiteres wiederherstellen: sie sind das Ergebnis von jahrzehntelangen Kämpfen der Bevölkerung gegen den Obrigkeitsstaat. Was zunächst als vorläufige Notstandsregelung angekündigt, könnte so durch die Hintertür zum Dauerzustand werden.

Ausgangssperre trifft Arme, Frauen und an den Rand gedrängte Gruppen am schärfsten
Eine Ausgangssperre trifft diejenigen am härtesten, die in prekären Verhältnissen leben. Für eine Familie auf begrenztem Raum im Erdgeschoss eines Hinterhofes ist eine Ausgangssperre deutlich heftiger und ungesünder als für Reiche, die in einer Villa am Starnberger See mit 1.000 Quadratmeter Garten leben. Für diejenigen, die in besagter Hinterhofwohnung, die in einer Sammelunterkunft (Geflüchtete) oder in anderen beengten Verhältnissen leben, ist die Möglichkeit nach draußen zu kommen, nichts auf das verzichtet werden kann. Auch für die Ärmsten, die überhaupt keine Wohnung haben oder die illegalisiert leben, ist die Ausgangsperre eine existenzielle Bedrohung.

Zudem hat eine erzwungene häusliche Isolation beträchtliche Nebenwirkungen. Bei alleinstehenden, älteren oder einsamen Menschen können jegliche soziale Kontakte wegbrechen. Studien zu früheren Wirtschaftskrisen haben gezeigt, dass Zukunftsängste die Suizidraten und exzessiven Alkoholkonsum massiv ansteigen lassen. Dieser Effekt könnte sich verstärken, wenn Menschen in dieser Situation in die Einsamkeit gezwungen werden. Zudem ist anzunehmen, dass die innerfamiliäre Gewalt gegen Frauen stark zunehmen wird.


Ökonomie konsequent auf die Bedürfnisse der Gesellschaft zuschneiden

Derzeit werden zu oft Bürger*innenrechte gegen Gesundheitsschutz abgewogen. Gesundheitsschutz muss aber vor ökonomischen Interessen stehen. Der Infektionsherd Arbeitsplatz muss weitestgehend abgestellt werden und nur noch die akut notwendigen Arbeiten ausgeführt werden. Statt weiterer Eingriffe in Bürger*innenrechte oder schöner Apelle braucht es jetzt einen massiven Ausbau der medizinischen Infrastruktur und bessere Arbeits- und Lohnbedingungen für Pflegekräfte, Mitarbeitende im Einzelhandel oder Erzieher*innen. Zudem sollte sich DIE LINKE aktiv an den Aufklärungs- und Solidaritätskampagnen beteiligen. Statt einer staatlich durchgesetzten Ausgangssperre brauchen wir Aufklärung und Solidarität von unten.

Links:

  1. https://twitter.com/search?q=#BleibtZuhause&src=typeahead_click
  2. https://twitter.com/search?q=#staythefuckhome&src=typed_query&f=live
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