Das Märchen von der Nullinfektion

Seit Tagen meldet die chinesische Führung keine neuen Corona-Fälle

  • Fabian Kretschmer, Peking
  • Lesedauer: 3 Min.

Am Montag warnte Chinas Premier Li Keqiang seine Parteikader eindrücklich: Sie sollen keine Fälle vertuschen, nur um die Ansteckungszahlen bei Null zu halten. Genau dies könnte sich derzeit jedoch zutragen: Nachdem Präsident Xi Jinping den Sieg gegenüber des Virus ausgerufen und eine Rückkehr zum Wirtschaftswachstum angeordnet hat, stehen die unteren Ebenen massiv unter Druck.

Mehrere Tage lang hat die Nationale Gesundheitskommission keine einzige Neuinfektion vermeldet, sondern lediglich »importierte Fälle« aus dem Ausland, die ohnehin bei ihrer Einreise in 14-tägige Quarantäne gesteckt werden. Es entstand der Eindruck, als ob China kurz davor stünde, virusfrei zu werden.

Am Sonntag hat das vergleichsweise kritische chinesische Magazin »Caixin« berichtet, dass in Wuhan weiterhin täglich mehrere asymptotische Fälle auftauchen - also Personen, die zwar positiv auf Covid-19 getestet werden, aber keine Symptome aufweisen. Diese werden in China nicht in die Statistik aufgenommen.

»Es macht absolut keinen Sinn für mich, dass eine Person zwar positiv ist, aber nicht gezählt wird, solange sie nicht krank ist«, zitiert die Nachrichtenagentur Bloomberg den Virologen Nigel McMillan von der US-amerikanischen Griffith Universität. Wissenschaftlich deutet alles daraufhin, dass auch asymptotische Fälle den Virus weitergeben können. In den meisten Ländern, darunter Südkorea, Japan und Deutschland, werden sämtliche positiv getestete Personen in den Statistiken aufgeführt. Meistens erfassen nur Länder mit unzureichenden Testkapazitäten lediglich die wirklich schwer Infizierten.

In China berichtete die »South China Morning Post«, dass rund ein Drittel aller positiv getesteten Personen entweder keine oder nur stark verzögert Symptome aufweisen. 43 000 von ihnen sollen bis Ende Februar in Quarantäne geschickt worden sein. Die Information beruht auf gesperrten Regierungsdokumenten - ohne einen Whistleblower hätte die Öffentlichkeit davon nicht erfahren.

In einer Pressekonferenz vom Dienstag wollten Mitarbeiter des Zentrums für Seuchenbekämpfung beruhigen: »Asymptotische Personen werden in China die Infektionen nicht weiterverbreiten«, erklärte man. Diese seien alle aufgespürt und unter Quarantäne. Experten hegen starke Zweifel daran, dass es der Regierung gelungen ist, sämtliche Fälle ausfindig zu machen.

»Ab Anfang März, als der Ausbruch in China unter Kontrolle gebracht wurde und sich stattdessen in anderen Ländern ausbreitete, wurde Chinas Position viel aggressiver«, analysiert Yun Sun von der Washingtoner Denkfabrik »Stimson Center«. Die Regierung in Peking versuche demnach gezielt, die Überlegenheit des eigenen Systems durch den »Misserfolg« in anderen Erdteilen unter Beweis zu stellen.

Es lässt sich eine »Gesichtsmasken-Diplomatie« beobachten, indem China seine Expertise und medizinische Hilfsgüter mit Italien, Spanien, Tschechien und Serbien teilt. Dass zuvor die Europäische Union ebenfalls über 50 Tonnen Hilfsausrüstung in die Volksrepublik entsandt hatte, ging in der medialen Wahrnehmung unter. Chinas Medien breiten die »Gutmütigkeit« exzessiv aus: »Wenn Handschläge in Europa nicht mehr gelten, kann Chinas helfende Hand einen Unterschied machen«, schrieb die Nachrichtenagentur Xinhua bei der ersten Lieferung nach Italien. Serbiens Präsident Aleksandar Vučić unterstützte diese Sichtweise, als er in einer Stellungnahme die europäische Solidarität als »Märchen« bezeichnete: »China ist das einzige Land, das uns helfen kann.«

Wenn es heute jedoch heißt, China habe der Welt mit seinen einschneidenden Gegenmaßnahmen mehrere Wochen Zeit erkauft, dann muss man im Gegenzug auch anfügen: Zuvor hatte China das Virus ebenfalls mindestens zwei Wochen verschwiegen und verharmlost, was einen Ausbruch erst ermöglicht hatte.

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