nd-aktuell.de / 30.03.2020 / Kultur / Seite 10

Das Bild vom Ausnahmezustand

»John Heartfield - Fotografie plus Dynamit«: eine nicht eröffnete Schau in der Berliner Akademie der Künste - jetzt digital

Gunnar Decker

Wie schnell die Normalität durch einen Ausnahmezustand ersetzt werden kann! Damit erweist sich all unser Glaube an Normen und Gesetze, an die Berechenbarkeit des Lebens überhaupt, als trügerisch. Was lange Zeit als nicht veränderbar galt, wird - im Ausnahmezustand - handstreichartig außer Kraft gesetzt. Regeln, Gesetze, Freiheiten, Pläne aller Art, staatsrechtliche Grundprinzipien (der Föderalismus), von langjährigen Konventionen nicht zu reden - das eine wird von einer Stunde auf die andere für ungültig erklärt, das andere ohne Diskussion eingeführt. Gefahr ist im Verzug, so ruft man laut. Zu laut? Plötzlich erweist sich die doch im Grundsätzlichen für nahezu unveränderbar gehaltene Bundesrepublik als reines Provisorium, das verschiedenste Kräfte zu radikalen Veränderungen einlädt. Aber in welche Richtung soll es gehen?

Kontinuität ist offenbar Fiktion, die mit leichter (starker?) Hand beiseite zu wischen ist. Der Bruch ist das, was zählt - oder wie der rechtskonservativ-machiavellistische Staatstheoretiker Carl Schmitt angesichts des Endes der Weimarer Republik sehr hellsichtig fragte: Wer entscheidet über den Ausnahmezustand?

Wer hier schnelle Antworten gibt, der lügt aus Ahnungslosigkeit oder manipuliert mit Vorsatz. Das ist auch das Thema von John Heartfield und seinen avantgardistischen Fotomontagen, die tatsächlich einmal zur Waffe wurden - und auf wundersame Weise dabei dennoch Kunst blieben. Und es scheint auch das Thema der Stunde. Nach Kriegen, Seuchen, Erdbeben oder Vulkanausbrüchen, nach dem Untergang der Titanic von 1912 oder der Katastrophe von Tschernobyl 1986 - die Weltwahrnehmung war danach eine andere. Aufklärung oder Apokalypse? Das war jedes Mal wieder die Frage. In solch offenen Situationen kann es emanzipatorische Schübe geben, aber auch das Gegenteil davon.

Darum lohnt es, sich diese besondere, an der Berliner Akademie der Künste wegen des Coronavirus vorerst nicht eröffnete Ausstellung »John Heartfield - Fotografie plus Dynamit« anzuschauen. Denn es gibt sie ja, wenngleich in Internet-Quarantäne! Das könnte eine gute Sache sein - ein Internetauftritt, der weltweit zu besuchen ist, zumal ein »interaktiver« mit einigen Zusatzfunktionen wie aufrufbaren Originaltondokumenten. An Bildern herrscht ohnehin kein Mangel. Aber darin steckt auch das Gefährliche: Was in einer Notsituation wie dieser löblich scheint, das Substrat der Ausstellung mit Texten und Bildern online zugänglich zu machen, es könnte auf ungute Weise Schule machen. Warum denn noch teurere Ausstellungen, wenn es auch billiger per Webseite geht?

Das betrifft auch die Kinos - eine Reihe der jetzt angelaufenen Filme kann man streamen. Oder Theaterinszenierungen, auch sie sind nun häufiger online abrufbar, zudem räumlich und zeitlich unbegrenzt. Das kann in bestimmten Fällen ein Vorteil sein (im Ausnahmefall wie diesem), aber im Normalfall zerstört es vor allem die besondere Qualität von Kunst, mit der möglichen Konsequenz, das analoge Original wegzusparen. Allein vor dem Fernseher zu sitzen, ist schon schlimm genug, aber allein vor dem Computer einer Theateraufführung beiwohnen? Das Allheilmittel Internet (wogegen?) hat starke Nebenwirkungen. Es vereinzelt und macht folglich einsam, denn Online-Begegnungen sind keine wirklichen Begegnungen, die Evolution des Menschen hat ihm seine Sinne nicht darum gegeben, sich virtuell im Klick-Modus zu bewegen.

Zurück zu Heartfield, dem es um eine ebensolche Schule der Wahrnehmung ging. Er sah: Mit moderner Technik, gleich ob Foto, Film oder Tonaufzeichnung, kann man der Wahrheit täuschend ähnliche Lügen produzieren - und damit bloß wie in der Werbung irgendwelche Produkte zu verkaufen, ist noch der harmloseste Anwendungsfall. Wahrnehmung muss irritierbar bleiben, so Heartfield, das »Gemachte« der suggestiven Bildercollagen jederzeit erkennbar sein. Hier wird nicht mittels Ästhetik überwältigt, sondern die Ästhetik dient in der Überwältigung zugleich der Erkenntnis technischer Überwältigungsmechanismen.

Die Heartfield-Webseite nimmt das Motiv eines KPD-Wahlplakates von 1928 auf: »Fünf Finger« war ein überwältigender Erfolg. Suggestiv, aber nicht mehr versprechend als das, was eine Hand zeigt: die Möglichkeit von Stärke jedes Einzelnen. Jeder hat es selber in der Hand.

Die Irritation von Wahrnehmung ist ein Thema, das Heartfields Fotomontagen auf einmalige Weise zeigen. Das, was die verschiedenen Bildelemente verbindet, ist immer der Gedanke des Betrachters, auf den Heartfields Kunst setzt. Er ist kein Agitator, der überreden will, er hat keine fertigen Antworten, zeigt vielmehr den Prozess der Wahrnehmung selbst und die Lügen derer, die ihn verschleiern wollen. Es ist auch die Geschichte von Dada und George Grosz, von Max Ernst, Otto Dix und vor allem von Raoul Hausmann, dem »Dadasophen«.

Wie schnell der Ausnahmezustand sich der Normalität bemächtigt, hatte bereits der achtjährige Heartfield erfahren, der damals (und bis 1916) noch Hellmuth Franz Josef Stolzenberg hieß. Der Vater war wegen »Gotteslästerung« verurteilt worden und die Familie (darunter auch sein jüngerer Bruder, der spätere Verleger des Malik-Verlages Wieland Herzfelde) floh in die Schweiz und nach Österreich. In einer Berghütte nahe Salzburg warteten die Kinder auf ihre Eltern, die in die Berge gegangen waren - und nie zurückkamen. Bis heute ist es ein Rätsel, was damals geschah. Die Kinder wuchsen dann bei einer Pflegefamilie auf, erhielten nur die niedere Volksschulbildung, bis sie aus den ihnen vorgegebenen Mustern ausbrachen und ihre eigenen Wege gingen. John Heartfield sagt in einem Interview von 1967, er habe damals schon gewusst, dass er ein berühmter Maler werden wollte.

Seine Bilder sind Ikonen des 20. Jahrhunderts geworden. Etwa die auf ein Bajonett gespießte weiße Taube. Auch jene Fotomontagen, die den Zusammenhang zwischen der deutschen Großindustrie und dem Aufstieg des Nationalsozialismus zeigen. Etwa: Thyssen mit einer Hitler-Marionette, darunter der Schriftzug: »Werkzeug in Gottes Hand? Spielzeug in Thyssens Hand!« Die Wirkung dieser Fotomontagen war enorm, auch weil viele von ihnen in Willi Münzenbergs Arbeiter-Illustrierten-Zeitung (AIZ) zu Titelbildern wurden. Auflage: eine halbe Million. Zudem schuf Heartfield vom Bühnenbild bis zum Plakat, etwa für Erwin Piscator, eine ganz eigene Theaterästhetik. Nebenbei entwarf er die Buchumschläge für den Malik-Verlag. Tucholsky schrieb 1932 in der »Weltbühne« hingerissen: »Wenn ich nicht Peter Panter wäre, möchte ich Buchumschlag im Malik-Verlag sein.«

Aber in der KPD, in die Heartfield sofort nach ihrer Gründung eintrat, war man nicht unbedingt angetan von seiner avantgardistischen Bildsprache, die orthodoxe Linke sah darin Verfall. 1933 gelang es Heartfield, sich seiner Verhaftung durch die Nazis mit einem Sprung vom Balkon seiner Wohnung zu entziehen, zu Fuß flüchtete er nach Prag, später nach London. Dort wäre er gern geblieben, die Briten gefielen ihm.

Doch seinem politischen Auftrag folgend kam er 1950 in die DDR - mitten hinein in die stalinistische Formalismus-Kampagne. Fotomontage sei keine Kunst, sondern eine spätbürgerliche Verfallserscheinung, beschied man ihm. Als Westemigrant wurde er beargwöhnt, die Affäre um den angeblichen US-Agenten Noel Field griff auch nach ihm. Der Eintritt in die SED wurde dem Gründungsmitglied der KPD verweigert (bis 1956). Zum Glück setzten sich Brecht und Stefan Heym für ihn ein - für Brechts Berliner Ensemble begann er 1951 auch wieder Theaterplakate zu gestalten, aber sie wirken merkwürdig zahm, fast altbacken.

Jener Furor der Anfänge, Nietzsches »Ich bin Dynamit« als radikale Protesthaltung gegen die Untertanenmentalität gewendet - sie war weg, sie lag unter einer dicken Staubschicht begraben. Denn vor Heartfields bloßstellender Fotomontage fürchteten sich auch die DDR-Oberen, nur in der antifaschistischen Vergangenheit sollte sein Werk ein subversives sein, nicht in der sozialistischen Gegenwart. Aber dafür, bloß zu loben und zu rühmen, war sich ein scharfer Geist wie Heartfield zu schade.

Die Präsentation ist unter www.johnheartfield.de[1] zu sehen

Links:

  1. http://www.johnheartfield.de