nd-aktuell.de / 30.03.2020 / Wirtschaft und Umwelt / Seite 9

Für die Alten nur noch Opiate zum Sterben

Die Corona-Epidemie trifft in Frankreich das Elsass besonders hart, die Krankenhäuser dort sind maßlos überfordert

Ralf Klingsieck

Frankreichs Epizentrum der Corona-Epidemie ist die Region Grand-Est, zu der Elsass, Lothringen und Champagne-Ardenne gehören. Man kennt heute sogar den Grund dafür: Ende Februar fand in der Stadt Mulhouse im Norden des Elsass ein mehrtägiges Treffen einer Evangelistenkirche mit 2000 Menschen aus ganz Frankreich und aus Nachbarländern statt. Keiner der Teilnehmer soll Krankheitssymptome gehabt haben, doch müssen unter ihnen bereits Infizierte gewesen sein. Sie steckten unwissentlich andere an und die nahmen das Virus mit zurück nach Hause, wo sich so neue Krankheitsherde bildeten.

Seit Wochen verzeichnet das Elsass und vor allem dessen Norden deswegen die meisten Todesopfer Frankreichs. So starben laut der offiziellen Statistik bis Freitag 1696 Menschen in Frankreich an dem Coronavirus. In der Region Grand-Est waren es 580 und im nördlichen Elsass allein 268. Von dort berichten Ärzte und Pflegekräfte von dramatischen Zuständen in den Krankenhäusern.

»Das ist schon keine Welle mehr, sondern ein Wirbelsturm, der alles mit sich reißt«, meint der Rettungsarzt François Cerfon vom Krankenhaus Colmar. In seiner Einrichtung sind die 30 Betten der Intensivstation längst belegt und täglich kommen zehn bis 20 dringende Corona-Fälle hinzu, die künstlich beatmet werden müssten. »Wir sind den ganzen Tag über beschäftigt, Plätze in anderen Krankenhäusern zu suchen«, so Cerfon.

Damit geraten die Ärzte immer mehr in dieselbe verzweifelte Lage wie ihre Kollegen im Epizentrum Norditalien, aufgrund des Gesundheitszustands, der eventuellen Langzeiterkrankungen und vor allem des Alters entscheiden zu müssen, wer notbehandelt wird und wer nicht. Wessen Überlebensaussichten vergleichsweise gering sind, dem können die Ärzte im Elsass nur noch mit Schmerz- und Schlafmitteln das Sterben leichter machen.

Vor dieser Entscheidung stünden die Ärzte zwar auch sonst andauernd, aber in der gegenwärtigen Situation und mit der Verknappung der technischen Mittel spitze sich das natürlich zu, erzählt Cerfon. »Wir haben die Kriterien, nach denen wir entscheiden, nicht geändert, und das Alter ist dabei nur ein Faktor.« Aber das könne sich mit der Zeit und der weiteren Verschärfung der Lage ändern.

Genauso dramatisch wie in Colmar ist die Situation an den Universitätskliniken von Mulhouse und Strasbourg, den beiden größten Krankenhäusern des Elsass. In Mulhouse hat die Armee auf dem Parkplatz der Klinik ein Feldlazarett mit 30 Plätzen für Intensivbehandlungen aufgebaut. In Straßburg wurde die Notstation, die gewöhnlich 100 Betten mit Einrichtungen für künstliche Beatmung hat, durch 150 Betten auf benachbarten Stationen erweitert. Doch die Möglichkeiten aufzustocken sind begrenzt, weil es an der nötigen Technik fehlt, und bestellte Beatmungsgeräte erst in drei bis vier Wochen geliefert werden können.

Um die Krankenhäuser des Elsass zu entlasten, gab es bereits Patiententransporte mit einem Flugzeug der Luftstreitkräfte ins südostfranzösische Toulon und mit einem TGV-Hochgeschwindigkeitszug nach Westfrankreich, wo die Krankenhäuser bislang noch freie Kapazitäten haben. Doch das brachte im Elsass nur eine Entlastung um einige Dutzend Kranke, während viele mehr täglich neu hinzukommen.

Man kann Tag für Tag verfolgen, wie sich die Corona-Epidemie in Frankreich von Ost nach West weiter ausbreitet. Dabei ist neben dem Elsass ein weiteres Epizentrum die Region um Paris. Schon jetzt sind in den Krankhäusern der Hauptstadt keine Plätze auf den Rettungsstationen mehr frei. Von den knapp 30 000 Coronavirus-Fällen, die bis Freitagfrüh landesweit nachgewiesenen waren, entfiel schon die Hälfte auf die Region Grand-Est und die Pariser Region.

Unterdessen dürften schon mehr als die am Samstag offiziell genannten 2300 Menschen dem Coronavirus zum Opfer gefallen sein. Denn in dieser Statistik tauchen nur jene auf, die in Krankenhäusern starben. Wer zu Hause stirbt, bleibt unberücksichtigt. Das gilt auch für Opfer in den Altenpflegeheimen. Wer hier an Corona erkrankt, wird meist gar nicht mehr von einem Krankenhaus aufgenommen.