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Noch nach Lübcke-Mord als unbedenklich eingestuft

Verfassungsschutz erkundigte sich 2019 bei Polizei nach mutmaßlichem Helfer des Hauptverdächtigen Stephan E. Die sah keine Auffälligkeiten

Vieles spricht für eine sehr aktive Rolle des Neofaschisten Markus H. bei der Vorbereitung des Mordes an Walter Lübcke am 2. Juni 2019. Der am 15. Juni verhaftete Hauptverdächtige Stephan E. hatte in einem zweiten Geständnis ausgesagt, H. sei mit ihm zusammen zu Lübckes Wohnhaus gefahren, der Schuss habe sich »versehentlich« aus dessen Waffe gelöst. In einem ersten Geständnis hatte sich E. noch als alleinigen Täter dargestellt.

H., der seit Ende Juni 2019 in Untersuchungshaft sitzt, hat sich gegenüber Ermittlern bislang nicht zu seiner Rolle geäußert. Fest steht aber, dass E. und H. in den Jahren vor dem Anschlag auf den Kasseler Regierungspräsidenten wiederholt gemeinsam Schießtrainings absolviert hatten und dass H. legal zahlreiche Waffen besaß.

Das hessische Landesamt für Verfassungsschutz will E. und H. vier Jahre vor dem Terrorakt als »abgekühlt«, also als nicht mehr aktive »Rechtsextremisten« eingestuft und daher nicht mehr beobachtet haben.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) interessierte sich dagegen offenbar noch 2019 für Markus H. - der bis zu seiner Verhaftung in einem Rüstungsunternehmen arbeitete. Das ergaben Recherchen, deren Ergebnisse der NDR und »Zeit online« am Dienstag veröffentlichten. Demnach hat sich das BfV beim Polizeipräsidium Nordhessen nach H. erkundigt - im Rahmen einer »Sicherheitsüberprüfung«. Mitarbeiter von Rüstungsbetrieben sollen überprüft werden, wenn sie Zugang zu vertraulichen Dokumenten bzw. zu Staatsgeheimnissen haben. Das Polizeipräsidium in Kassel antwortete - fünf Tage nach dem Tod von Lübcke - auf die Anfrage des BfV, zu H. lägen »keine aktuellen staatsschutzpolizeilichen Erkenntnisse« vor. Zu diesem Zeitpunkt wurde gegen H. im Fall Lübcke noch nicht ermittelt.

H., der seit 1990 durchgehend aktiver Neonazi war, soll in der Firma in der Fahrzeugproduktion gearbeitet haben. Dies sagte ein Sprecher des Unternehmens dem Rechercheteam. Von der rechten Gesinnung seines Mitarbeiters will der Konzern nichts gewusst haben. H. habe weder Zugang zu sensiblen Dokumenten noch zu Waffen gehabt, so der Sprecher.

Nach Einschätzung der Generalbundesanwaltschaft hat H. Stephan E. zum Mord an Lübcke angestachelt. Dieser Vorwurf basiert vor allem auf Aussagen der ehemaligen Lebensgefährtin von H. Nach ihren Angaben hat der 43-Jährige die Radikalisierung von E. vorangetrieben.

Wie NDR und »Zeit online« jetzt berichten, hat die Exfreundin schon 2018 im Rahmen eines Sorgerechtsstreits ein Familiengericht vor Markus H. gewarnt, dieser besitze illegale Waffen und Chemikalien zur Sprengstoffherstellung. Zudem stelle er in seiner Wohnung selbst Munition her. Die Frau beschrieb H. als »rechtsextrem«, er stehe den »Reichsbürgern« nahe. Das Gericht leitete diese Informationen offenbar nicht an den Staatsschutz oder an andere Behörden weiter. Die Staatsanwaltschaft Kassel teilte auf Anfrage mit, sie habe weder 2018 noch 2019 gegen H. wegen Waffen- oder Sprengstoffdelikten ermittelt. Über viele Schusswaffen verfügte der Rechtsradikale legal. Er hatte Waffenbesitzkarten, erhielt von Behörden wiederholt Unbedenklichkeitsbescheinigungen.

Im Juni 2019 waren bei H. zahlreiche Waffen gefunden worden. Auch ein Großteil der bei Stephan E. und bei dem Verdächtigen Elmar J. sichergestellten Mordwerkzeuge gehörte H., wie das Bundesinnenministerium auf eine Anfrage der Linke-Abgeordneten Martina Renner im vergangenen Jahr mitteilte.

Hermann Schaus, innenpolitischer Sprecher der Linksfraktion im hessischen Landtag, erklärte am Dienstag, die neue Veröffentlichung zeige einmal mehr eklatante »Pannen« auf. Dass die Aussagen der Exfreundin H.s von dem Familiengericht nicht weitergeleitet wurden, sei »ein ungeheuerliches Versäumnis«. Auch der Umstand, dass der Staatsschutz H. im Juni eine »reine Weste« bescheinigte, werfe Fragen auf. Schaus kritisierte zudem, dass derart wichtige Informationen »wieder einmal nicht durch die Behörden, sondern erst durch die Medien veröffentlicht« worden seien.

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