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Frei wie der Wind

Gute Lieder, gute Sätze: Oil, die neue Indie-Supergroup aus Berlin und aus Hamburg, die noch keiner kennt. Von Christof Meueler

Hell oder Hölle? Gute Frage, Entfremdungscheck im Spätestkapitalismus, der immer wieder Kunstprojekte hervorbringt, die so fundamental fragen - und weniger politische Bewegungen, die sich das trauen. »Hell oder Hölle« heißt ein Lied der neuen Gruppe Oil, die ihr Debüt »Naturtrüb« als Gesamtkunstwerk veröffentlicht hat: einerseits als Vinyl-Doppelalbum, erschienen auf dem legendären ZickZack-Label, und andererseits als ein »Roman« genannter Werkstattbericht über die Musikproduktion, erschienen im neolegendären Verbrecher-Verlag.

Das Buch zur Platte, die Platte zum Buch. »Ich meine: Wo gibt es das sonst?«, fragt im »Roman« Maurice Summen, Sänger der Band Die Türen und Chef des Indie-Labels Staatsakt. Die anderen drei Oil-Mitglieder sind: Reverend Dabeler, ein Berufsmusiker, der auch Ausflugsdampfer auf Flüssen steuern kann; Gereon Klug, Plattenhändler und der Texter von »Leider geil«, dem Hit von Deichkind - »er sagt, er sei eine Art Autor«, heißt es über ihn. Und der Musiker und Comiczeichner Timur Mosh Çirak, der sich im Buch, das er illustriert hat, als Spezialist für Eierspeisen und Mocca-Kochen vorstellt.

Die Handlung: Vier ältere Künstlertypen über 50 gründen eine Band, eine »viel zu späte Herrengroup«, aber »vom Schicksal gecastet«. Sie reisen mehrfach aufs Land, in die Holsteinische Schweiz, um Musik aufzunehmen oder darüber zu reden, welche es sein könnte. »Kunst mag ich, Künstler nicht«, wie es Reverend Dabeler formuliert. Aber er hat ja noch einen Hund, der ausbüxt, um sich einem Wolfsrudel anzuschließen. Große Sache. Eine andere: Summen hat schon heimlich ein Lied namens »Frei wie der Wind« an die Industrie verkauft und ist deshalb innerlich zerrissen, ähnlich wie der Hund.

Oil ist eine Indie-Supergroup, die keiner so nennen würde, schon allein deshalb, weil dieser Begriff ausgestorben ist. Macht nichts, diese vier Alten Herren, wie man sie im Fußball nennen würde, kommen aus den unendlichen Weiten bohemistischer Ironie, entwickelt im Hamburger Pudelclub und ähnlichen Lokalen in Berlin. Jeder schreibt hier tagebuchartig mit: »Ich komme mir vor wie in einem Monty-Python-Sketch. Oder als wären wir Figuren aus einem Douglas-Adams-Buch«, meint Dabeler, der auch philosophisch nachdenkt: »Das Leben ist doch wie eine Chemieklausur, bei der man nach Dreiviertel der Zeit weiß, es ist jetzt scheißegal, was man noch tut; mehr als ’ne Vier minus wird das nicht mehr.«

Die Musik von Oil weist dagegen öfter in Richtung Zwei plus. Es gibt Oldest-School-Rap, merkwürdigen Schlager, schlurfenden Krautrock und soulige Mitsingsongs, die heißen »Yoko Ohne«, »The Finest in Masturbation« oder »Du, ich melde mich später«. Problem: Bei den Zusammenkünften in Holstein grassiert der »Männervirus Musikwissen« (Klug), und zwar »ohne Therapeuten« (Summen), nur begleitet vom Tomatenmark, das Çirak anbrät. Der wünscht sich, dass ihre Musik so klingen soll: »schlicht, aber elementar und zusammengeklebt mit Blut, Rost und trockenem Sand«.

Vielleicht geht Popmusik nur noch als Scherz, wenn man über 50 ist und so viel schon kennt. Die Aktion, eine merkwürdige Band zu erfinden, erinnert an das satirische »Fraktus«-Projekt (2012) von Studio Braun, als deren Manager Klug auch tätig ist. Und an PIL (Public Image Limited), die Band, die John Lydon nach dem Ende der Sex Pistols gründete, um sich über das Popgeschäft zu belustigen - die erste Single hieß »Public Image« (1978). Oil haben auch ein Lied, das so heißt wie sie (vernachlässigbar). Ein weiterer programmatischer Song ist »Frack it!«, eine Ode ans Fracken und Ficken als Spätestdisco, mit tanzenden uniformierten Frauen im Video, die halb so alt sind wie die Oil-Mitglieder. Typisch. Oder ein weiterer Witz? »Wenn du so auf Sterne stehst, dann flieg doch hin / Statt immer nur davon zu träumen«, sprechsingt Klug im imposanten Titelsong »Naturtrüb« wie Allen Ginsberg in seinem Langgedicht »Howl«. Klug bedichtet den Planeten Erde: »Mach dich locker, du steife Achse.« Dauert eine ganze Plattenseite, 20 Minuten und 32 Sekunden, und klingt, als habe man die Doors, Jethro Tull und Can gemischt, angebraten in Tomatenmark.

Dabeler notiert: »Jeder von Oil kann gut kochen. Ich meine, das ist eigentlich so was von ätzend: vier Männer auf dem Land, die sich gegenseitig gut bekochen. Ich muss kotzen bei der Vorstellung. Aber wenn man selbst davon betroffen ist, schmeckt es gut und macht Laune.« Gute Lieder, gute Sätze. »Manchmal bin ich überrascht, selbst von uns Menschen« (Klug).

Oil: »Naturtrüb«, DoLP, ZickZack; Die Gruppe Oil: Naturtrüb. Verbrecher-Verlag, 200 S., geb. 20 €.

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