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Das Recht, mitzudenken

Ethikrat für öffentliche Diskussion über Aufhebung von Beschränkungen wegen Coronavirus

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 3 Min.

Wann und nach welchen Kriterien kann das öffentliche Leben wieder aufgenommen werden? Welches wären sinnvolle Schritte bei einem sogenannten Exit aus der Ausnahmesituation? Diese Fragen beschäftigten viele Menschen. Auch in der medialen Debatte, in den sozialen Medien spielen sie eine große Rolle. Vor allem aus der Wirtschaft fordern Interessengruppen, sobald wie möglich wieder zur Normalität zurückzukehren.

Diese anschwellende gesellschaftliche Diskussion beobachtet auch der Deutsche Ethikrat. Das von der Bundesregierung berufene Beratungsgremium hatte Ende März eine Empfehlung unter dem Titel »Solidarität und Verantwortung in der Coronakrise« verabschiedet. Dazu meldete sich der Rat am Dienstag erneut zu Wort – weil sich die Debatte vor allem um zwei Themenfelder intensiviert habe, neben der Triage, also den Entscheidungen, die bei Knappheit medizinischer Kapazitäten zu treffen seien, auch zu den Öffnungsperspektiven.

Eine der wichtigsten Empfehlungen an die Politik in diesem Zusammenhang formuliert Peter Dabrock, seit 2016 Vorsitzender des Ethikrates. Der Theologe von der Universität Erlangen-Nürnberg nennt die gegenwärtige Kommunikationsstrategie vieler politischer Verantwortlicher zu möglichen Lockerungen »verbesserungsbedürftig«. Zu häufig würde die Debatte primär über den Zeitaspekt geführt. »Die sachlichen und sozialen Kriterien werden hintangestellt. Dieser Zugang muss geradezu zu Frustration führen.« Ständiges Wiederaufschieben von Lockerungen bedrohe die hohen Zustimmungsraten zu den Maßnahmen.

Dabrock zollte der Politik durchaus Anerkennung, adressierte jedoch zugleich, auch an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die Aufforderung, die Bevölkerung mehr mitzunehmen und Vorschläge für einen Ausstieg aus den Einschränkungen gesellschaftlich zu debattieren. Der Ethikrat begrüße die durchaus kontroverse Debatte als Ausdruck einer offenen Gesellschaft.

Das Maß, in dem bisher Solidarität gezeigt und Einschränkungen recht klaglos in Kauf genommen wurden, gebe den Menschen ein Recht, über die Herausforderungen nachzudenken, auch zu klagen, auf Belastungen hinzuweisen und die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen zu hinterfragen. Genauso gebe es ein Recht, darüber nachzudenken, wie es weitergeht und unter welchen Bedingungen eine Öffnung verantwortbar oder sogar geboten sei. »Es ist zu früh, Öffnungen jetzt vorzunehmen. Aber es ist nie zu früh, über Kriterien für Öffnungen nachzudenken. Alles andere wäre obrigkeitsstaatliches Denken«, so der Ethikratvorsitzende.

Erneut, wie schon in der Empfehlung von Ende März, appellierte der Rat an die Politik, die freiheitsbeschränkenden Infektionsschutzmaßnahmen fortlaufend kritisch zu bewerten. Auch eine fundierte Strategie für die transparente und regelmäßige Kommunikation zu diesen Maßnahmen sowie zur politischen Entscheidungsfindung war gefordert worden. Dabrock sagte jetzt: »Je länger die Krise dauert, je mehr Stimmen dürfen, ja müssen gehört werden.« Gegen einen Durchmarsch der Exekutive empfiehlt der der Bundesregierung stattdessen: »Einer weiterhin notwendigen entscheidungsstarken Politik schadet es nicht, zuzuhören, zu beteiligen und auch Grenzen der eigenen Kompetenz anzuerkennen.«

Bundeskanzlerin Merkel hatte zuvor erklärt, dass es auf jeden Fall einen schrittweisen Ausstieg geben werden, den Termin aber offengelassen. CSU-Chef Markus Söder mahnte am Montagabend zu Geduld wie zuvor Kanzlerin Angela Merkel. Auch SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil nannte eine Debatte über Lockerungen zum jetzigen Zeitpunkt falsch.

Eigene Szenarien entwickelt die Bundesregierung demnach nicht, beobachte aber genau, was andere durchspielten. Dies sind vor allem Experten, darunter aus der Wirtschaft. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hatte einen 12-Punkte-Plan vorgelegt. Ein Exit könne danach nur beginnen, wenn die medizinische Grundversorgung gewährleistet sei – einschließlich Test- und Behandlungskapazitäten. Als nächste Stufe seien Grundversorgung in der Kinderbetreuung und Infrastruktur wieder herzustellen oder auszuweiten. Das sei Voraussetzung, dass Eltern wieder arbeiten könnten. Auch eine 14-köpfige Gruppe von Ökonomen, Ärzten, Ethikern und Juristen gelangte zu einer ähnlichen Einschätzung. Sie forderte unter anderem erweiterte Hilfen für Hochrisikogruppen. Ebenso verlangte die AG Mittelstand, ein Verbund von Verbänden, am Dienstag eine »intensive Debatte« über eine verantwortungsvolle Exit-Strategie.

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