Unzufrieden trotz Systemrelevanz

Beschäftigte raten mehrheitlich davon ab, im Einzelhandel zu arbeiten

  • Moritz Aschemeyer
  • Lesedauer: 4 Min.

Obwohl die Supermarktkassiererinnen neuerdings systemrelevant sind, stehen Jobs im Einzelhandel bei den Arbeitnehmern nicht hoch im Kurs. Das hat die aktuelle Auswertung des Portals »Lohnspiegel.de« ergeben, das vom Wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung betreut wird.

»Die meisten Menschen mögen ihren Beruf und identifizieren sich mit ihm«, erklärt Malte Lübker, Experte für Tarif- und Einkommensanalysen am WSI. »Wir waren deshalb schon überrascht, wie oft Beschäftigte aus dem Einzelhandel davon abraten, diesen Berufsweg einzuschlagen: Gut 60 Prozent tun das.« Die Umfrage wurde noch vor der Coronakrise durchgeführt, die aktuellen Entwicklungen finden also keine Berücksichtigung. Begründet hatten die über 1000 Teilnehmer der Umfrage ihr Abraten unter anderem mit familienunfreundlichen Arbeitszeiten und der schlechten Bezahlung in der Branche.

Dies sind Faktoren, die sich in der aktuellen Krise vermutlich nicht verbessert haben. Im Gegenteil: Für Supermärkte wurden bereits die Regeln zur Sonntagsarbeit gelockert, diese sollen in einigen Bundesländern auch für die Osterfeiertage gelten, etwa in Rheinland-Pfalz und im Saarland. Bisher wird vor allem in der Logistik und der Kommissionierung von entsprechenden Regeln Gebrauch gemacht. Einem Bericht des »Handelsblatts« zufolge plant das Bundesministerium für Arbeit zudem, unter anderem in der Logistik 12-Stunden-Schichten und kürzere Ruhezeiten zu erlauben.

Für die Zeit nach Corona forderte der Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes HDE, Stefan Genth, gegenüber dem Portal »t-online«, dass Geschäfte für eine gewisse Zeit Sonntags öffnen sollten. Beim Arbeitszeitgesetz und bei den Ladenöffnungszeiten wolle man Änderungen vornehmen. »Hier darf es keine Denkverbote geben«, so Genth. Durch die gesetzlichen Anpassungen könne sich der Einzelhandel erholen, außerdem sei Shopping für die Bürger nach den Ausgangsbeschränkungen eine willkommene Freizeitaktivität. Hatte die Branche für Februar noch ein Plus von 6,4 Prozent verzeichnet, werden insbesondere im stationären Handel schwere Verluste verbucht, die auch vom Onlinehandel nicht aufgefangen werden. Der Onlinehandel brach im März um fast ein Fünftel gegenüber dem Vorjahresmonat ein.

Bezüglich der Bezahlung steht den systemrelevanten Arbeitskräften ebenfalls keine rosige Zukunft bevor. Im Einzelhandel arbeiten mit einem Anteil von knapp 70 Prozent überwiegend Frauen, davon viele als Verkäuferinnen. Bei Vollzeitarbeit erzielen Fachkräfte im Einzelhandel laut Statistischem Bundesamt einen Bruttodurchschnittslohn von 2841 Euro, ungelernte lediglich 2189 Euro im Monat. 2018 arbeitete jedoch lediglich ein Drittel der Angestellten im Einzelhandel in Vollzeit, mehr als 50 000 Verkäuferinnen mussten zudem ihr Einkommen mit Sozialleistungen aufstocken.

Zwar haben einige Branchengrößen des Einzelhandels bereits gehandelt und das Kurzarbeitergeld auf 90 oder sogar 100 Prozent des Nettogehalts aufgestockt. Supermarktketten zahlen ihren Angestellten zudem in der aktuellen Krise Boni. Auch hat der nordrhein-westfälische Arbeitgeberverband am 31. März einen Tarifvertrag mit Verdi abgeschlossen, der das Kurzarbeitergeld rückwirkend für den März auf 100 und bis Ende Juni auf 90 Prozent erhöht. Ermöglicht wurde dies unter anderem durch einen Passus im Tarifvertrag, der eine vierwöchige Ankündigungsfrist für Kurzarbeit vorschreibt.

Auf Bundesebene weigerte sich der Handelsverband HDE jedoch, eine tarifliche Aufstockung des Kurzarbeitergeldes zu vereinbaren. »Es gibt bisher leider noch keine Anzeichen, dass andere regionale Arbeitgeberverbände des Einzelhandels dem Beispiel in Nordrhein-Westfalen folgen«, sagte der Verdi-Pressesprecher Günter Isemeyer gegenüber »nd«. Man werde nun versuchen, mit einzelnen Unternehmen Verträge abzuschließen.

Vergangene Woche hatte der HDE mit dem Vorschlag für Aufsehen gesorgt, die anstehenden Gehaltserhöhungen von 1,8 Prozent zu verschieben und das Geld für die Erhöhung des Kurzarbeitergeldes zu nutzen. Es gehe dabei lediglich um von Schließungen betroffene Unternehmen im Textil- oder Elektronikbereich, schob der Verband nach, Kassiererinnen seien ausgenommen. »Dann würden die Beschäftigten diese Aufstockung des Kurzarbeitergeldes selbst bezahlen. Dafür brauchen sie keinen Arbeitgeberverband«, kommentierte Verdi-Bundesvorstandsmitglied Stefanie Nutzenberger.

Neben dem Angriff auf bestehende Tarifverträge bleibt für die Beschäftigten im Einzelhandel die Tarifflucht eines der größten Probleme. Im Jahr 2018 waren nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung nur noch 36 Prozent der Beschäftigten im Einzelhandel durch Tarifverträge geschützt. Diese Quote dürfte sich durch die Coronakrise kaum verbessern.

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